Care-Arbeit ist «systemrelevant» und sollte in die Mitte der wirtschaftlichen Theorie und Praxis rücken. Das finden die beiden Autorinnen Ina Praetorius und Uta Meier-Gräwe. Die beiden kritisieren unser heutiges Wirtschaftssystem, das diesen unbezahlten Care-Sektor ignoriert und sich lediglich darauf fokussiert, was zahlungskräftige Leute sich leisten können.

In ihrem Buch «Um-Care. Wie Sorgearbeit die Wirtschaft revolutioniert» fordern sie ein Umdenken und nehmen Care-Arbeit als Ausgangspunkt für eine zukunftsfähige Wirtschaft.

Das Buch ist 2023 im Patmos Verlag erschienen. In 60 kurzen Texte beleuchten Ina Praetorius und Uta Meier-Gräwe die Care-Ökonomie. Bei ellexx publizieren wir in den nächsten Wochen inspirierende Texte aus dem Buch. Der zweite widmet sich der Frage «Wer ist produktiv?».

Ein Professor der Wirtschaftswissenschaft erklärt mir, es sei «zu kompliziert», den grössten Wirtschaftssektor ins Bruttoinlandsprodukt einzubeziehen. Der Ombudsmann des Schweizer Fernsehens weist eine Programmbeschwerde mit dem Argument ab, es sei «zu kompliziert», in einer Reportage über Betreuungskosten den Wert der Gratisleistungen einer betreuenden Ehefrau zu berechnen. Der Chefredakteur der Handelszeitung schreibt mir, es handle sich bei der Haushaltsproduktion doch um eine Akte der «Zuneigung, Verantwortung und Freude», weshalb sie nicht honoriert werden müsse. Und dann kommt noch einer daher und säuselt, es widerstrebe ihm, Schwangerschaft und Gebären als «Produktivität» zu bezeichnen, weil das Werden eines Ichs im Mutterleib doch ein staunenswertes Wunder sei, das mit ökonomischen Begriffen zu bezeichnen die Heiligkeit des Lebens verletze.

Ina Praetorius
Produktion sollen wir uns demnach als Mechanik vorstellen: Möglichst wenige Arbeiter sollen in möglichst kurzer Zeit möglichst viele identische Gebrauchsgegenstände fabrizieren, die ihr Boss dann möglichst gewinnbringend verkauft.

Heilig oder profitabel

Dass man das vermischte Tun der Mütter und Hausfrauen einschliesslich Gebären und Stillen als kompliziert empfindet und moralisch auf einem anderen Stern ansiedelt als das Bruttoinlandsprodukt, liegt nun allerdings nicht daran, dass dieses Tun tatsächlich heiliger wäre als zum Beispiel der Umgang mit Tieren und Pflanzen in der Landwirtschaft oder das Hantieren mit seltenen Erden in der Chip-Industrie.

Es liegt vielmehr daran, dass man uns an einen abstossend seelenlosen Produktivitätsbegriff gewöhnt hat. Was «Produktivität» bedeutet, hat Adam Smith, ein wichtiger Gründervater der Wirtschaftswissenschaft, am Beispiel der arbeitsteiligen Herstellung von Stecknadeln in einer Werkstatt erläutert. Mir kommen als Erstes Autos auf Fliessbändern in den Sinn. Produktion sollen wir uns demnach als Mechanik vorstellen: Möglichst wenige Arbeiter sollen in möglichst kurzer Zeit möglichst viele identische Gebrauchsgegenstände fabrizieren, die ihr Boss dann möglichst gewinnbringend verkauft.

Ina Praetorius
Wo enden skalierbare Herstellungsprozesse, wo beginnt das heilige Wunder des Lebens?

Interessanterweise fällt mir dazu Barbara Dürer-Holper ein, die zwischen 1467 und 1492 achtzehn Kinder geboren hat, von denen drei erwachsen wurden, darunter der Maler Albrecht Dürer, dessen Bilder der ganzen Familie zu Wohlstand verhalfen. Vermarktet hat die Bilder übrigens Albrechts kinderlose Ehefrau Agnes Frey.

Wer ist hier wie produktiv oder unproduktiv?

Ein überlebenskompatibler Begriff von Produktivität

Wo enden skalierbare Herstellungsprozesse, wo beginnt das heilige Wunder des Lebens? Zum Glück ist es heute verboten, Menschen zu verkaufen, weshalb Mütter ihre Erzeugnisse nicht auf direktem Wege in Profit verwandeln können.

Ina Praetorius
Statt die generative Arbeit in Haushalten gegen eine fragwürdig mechanistische Vorstellung vom menschlichen Zusammenleben abzuschotten, könnten wir ein Verständnis von Produktivität entwickeln, das alles Erzeugen als Zusammenwirken geborener Menschen mit endlicher lebendiger Materie begreift.

Es sollte aber auch verboten sein, Gegenstände wie Motorräder oder Plastiktüten so herzustellen, als bestünden sie aus toten Zahlen und nicht aus der endlichen Materie, mit der die Menschheit sorgsam umgehen muss, will sie im empfindlichen Grosshaushalt Erde überleben.

Statt die generative Arbeit in Haushalten gegen eine fragwürdig mechanistische Vorstellung vom menschlichen Zusammenleben abzuschotten, könnten wir ein Verständnis von Produktivität entwickeln, das alles Erzeugen als Zusammenwirken geborener Menschen mit endlicher lebendiger Materie begreift. Die Etymologie inspiriert: Pro-ducere bedeutet einfach hervorführen, hervorbringen, begleiten, und Materie hängt mit Mater (Mutter) zusammen.


Aus: Ina Praetorius/Uta Meier-Gräwe, Um-Care. Wie Sorgearbeit die Wirtschaft revolutioniert (c) Patmos Verlag. Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern 2023. www.verlagsgruppe-patmos.de

Ina Praetorius

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Wir müssen über Care-Arbeit reden
Die Prognosen sind düster: Uns gehen die Fachkräfte aus. Was wir dagegen tun können? Mehr erwerbstätig sein, findet eine Mehrheit der Bevölkerung. Aber nicht alle. Mütter sollen sich weiter der Familie verschreiben. Schade, jetzt hätten wir die Chance, unser System zu überdenken – grundlegend.