Rausch winkt der Bedienung, um die dritte Runde zu bestellen. Einen Gin Tonic für Breidt, ein grosses Bier für Hacke und noch einen Wodka Martini für sich selbst. Agnes entschliesst sich nach zwei Runden Cola Zero nun doch für einen Aperol Spritz – schliesslich haben sie etwas zu feiern.

Heute wurde bekannt, dass die Comma AG den Grossauftrag aus China akquirieren konnte. Nach dem schwachen dritten Quartal hat der Druck auf Rausch und sein Sales Team zugenommen. Entsprechend aufgedreht ist die Stimmung jetzt, nach der erlösenden Mitteilung aus dem Reich der Mitte. Damit sind das Jahresergebnis gerettet und die Provisionen im Trockenen.

Rausch erhebt sein Glas. „Auf das beste Verkaufsteam, das die Comma AG je hatte. Ich danke Euch allen für Euren Einsatz. Und Hacke ganz besonders für sein Spezial-Engagement in Shanghai!“

Gelächter mischt sich unter das Gläserklirren. Hacke nimmt den Steilpass von Rausch dankbar an und beginnt sogleich mit der Anekdote über seinen Besuch der Shanghaier Niederlassung des chinesischen Grosskunden. Nach der zweitägigen Verhandlung lud ihn Herr Xiaolu mit dem gesamten chinesischen Verhandlungsteam ins Jin Xuan Restaurant in Pudong ein. Die Aussicht vom 53. Stock des Ritz Carltons war atemberaubend, das Essen ausgezeichnet und der chinesische Maotai stark. Aber auch nach acht „Ganbei“ sass Herr Xiaolu noch aufrecht und in bester Wettkampflaune am Tisch. Abgesehen von seinem puterroten Kopf war ihm nicht anzumerken, dass er bereits mindestens 2 Promille intus haben musste. Für Hacke mit seinem Jetlag dagegen hatte das Leiden spätestens nach der dritten Auf-Ex-Runde begonnen. Irgendwann wusste er nicht mehr, ob er besser auf die zu einem farbigen Brei verschwimmende Shanghaier Skyline oder das in doppelter Ausführung schwankende Stillleben aus Gläsern, überfüllten Aschenbechern und über den ganzen Tisch verteilten Sonnenblumenkernen fokussieren sollte. Der Abend endete damit, dass Hacke auf allen Vieren zum Taxi kroch, dass ihm Herr Xiaolu nach ungezählten weiteren Runden Maotai ordern liess – und der Vertrag am nächsten Morgen unterzeichnet wurde.

Rausch klopft Hacke anerkennend auf die Schulter bevor er die nächste Runde bestellt - nochmals dasselbe für alle, ausser dass Agnes nun ebenfalls auf Gin Tonic wechselt.

Rauschs Geste motiviert Breidt, nun zu seiner Geschichte anzusetzen: ähnlich gelagert, bereits allen bekannt, aber immer wieder ein Schenkelklopfer. Sie handelt von einem Ausflug zum Fischen mit dem russischen Kunden Jefim Schirjajew. Da Schirjajew Breidt in Russland auf ein Wochenende mit allem Drum und Dran in seine Datscha eingeladen hatte und Breidt wusste, dass er gerne fischte, wollte sich Breidt beim Besuch von Schirjajew in der Schweiz revanchieren. Weil er selbst kein Wochenendhaus besitzt, erlaubte ihm Rausch eines auf Firmenkosten am Thunersee zu mieten. Schirjajew gefiel der Ausflug sehr und der von Breit extra besorgte Russki Standard Platinum Wodka mundete ihm vorzüglich. Als ihm aber ein Vertreter des lokalen Fischereiinspektorates erklärte, sein russischer Sachkundeausweis berechtige ihn weder zur Verwendung von Widerhaken noch von lebenden Köderfischen, wurde Schirjajew derart ausfällig und handgreiflich, dass er und Breidt die Nacht in einer Ausnüchterungszelle in Spiez verbringen mussten.

Die Gläser der fünften Runde, welche Rausch im Laufe der etwas langatmigen Erzählung von Breidt bestellt hat, sind bereits wieder leer und das Gelächter noch etwas lauter als bei Hackes Anekdote, wie Breidt befriedigt feststellt.

Rausch’s Blick in die Runde bestätigt, dass seine Vorredner die Stimmung genügend aufgeheizt haben; auch Agnes hat mittlerweile rote Backen und kichert fröhlich. So kann er, nachdem die sechste Runde bestellt ist, zur krönenden Chef-Story ausholen: ebenfalls feuchtfröhlich, wenn auch nicht ganz so witzig wie die von Hacke und Breidt. Letzteres lässt sich niemand anmerken, schliesslich wollen alle von der ausgezeichneten Laune Rauschs zum Jahresende profitieren. Dieser nimmt den nochmals gesteigerten Lachpegel zufrieden zur Kenntnis und lässt sich sogar dazu hinreissen, sich von Hacke auf die Schulter klopfen zu lassen.

Auf dem Höhepunkt der Stimmung wird beschlossen, den Abend eine Tür weiter, im Du Théâtre, ausklingen zu lassen. Rausch bestellt die Rechnung und Agnes greift ihre Handtasche, um sich auf der Toilette noch kurz frisch zu machen, bevor die Gruppe aufbricht.

Als sie aufsteht, merkt sie, dass der letzte Drink einer zu viel war. Noch im Umdrehen will sie sich mit der freien Hand auf die Stuhllehne stützen, die nach hinten wegkippt. Nun knicken auch ihre High heels ein und Agnes landet begleitet von dem lauten Poltern des Stuhles auf den Knien. Schnell packt sie ihre Tasche, steht auf und wankt Richtung Toilette.

„Wie peinlich“ zischt Hacke, kaum ist Agnes ausser Hörweite. „Einfach nur vulgär.“ doppelt Breidt nach. Rausch steht auf, zieht seinen Mantel an und hält seinen beiden Mitarbeitern die Tür auf. Zu Fuss machen sie sich auf den Weg ins Du Théâtre, bevor Agnes zurück am Tisch ist.