
Das Schweigen der Männer
In letzter Zeit muss ich häufig an einen Satz denken, der dem irisch-britischen Philosophen und Politiker Edmund Burke (1729–1797) zugeschrieben wird – einem der wichtigen frühen und ausgerechnet konservativen Denker. Er geht in etwa so:
«Alles, was das Böse braucht, ist, dass gute Menschen nichts tun.»
Das Zitat, das im 20. Jahrhundert häufig im Kontext von Faschismus, Zweitem Weltkrieg und Menschenrechtsverletzungen verwendet wurde, erscheint mir heute aktueller als je zuvor, denn: Das Schweigen der Männer zum Sturm auf unsere Rechte ist ohrenbetäubend. Und zwar sowohl global als auch in meinem eigenen Leben.
Einige Beispiele gefällig?
In den USA kippte der Supreme Court 2022 das bundesweite Recht auf Abtreibung – auf den Strassen standen vor allem Frauen, während viele prominente Männer, etwa im Sport, auffällig still blieben. Die lautesten Stimmen gegen den Eingriff in Frauenrechte waren weiblich, machte den Angriff politisch leichter durchsetzbar.
Rosanna Grüter
Vor einigen Monaten verfolgte mich an der Zürcher Langstrasse ein armer Irrer mit einem erhobenen Pflasterstein. Intervention durch einen der vielen anwesenden Männer: Fehlanzeige.
In Afghanistan haben die Taliban Bildung, Arbeit und Bewegungsfreiheit von Frauen massiv eingeschränkt – eine der gravierendsten Frauenrechtskrisen weltweit. , während viele Männer zwar privat Zustimmung signalisieren, öffentlich schweigen und damit ein System zementieren, das auf der Entrechtung von Frauen basiert.
Und zu guter Letzt zeigt auch der anfängliche Entscheid des Nationalrats, im Budget 2026 keine zusätzliche Million für den Schutz vor Gewalt an Frauen zu sprechen, wie laut das Schweigen der Männer klingen kann. Männer, die sich als Verbündete verstehen, hätten jede Möglichkeit gehabt, sich hinzustellen, das Wort zu ergreifen und klar zu sagen, dass Frauenleben nicht verhandelbar sind – politisch wie finanziell. Stattdessen blieb es im entscheidenden Moment mehrheitlich still auf den Bänken jener, die sich sonst gern auf Vernunft, Verantwortung und Humanismus berufen – sowohl im Parlament als auch in meinem eigenen Leben. Ich erhielt dutzende von Aufrufe: Zum Unterzeichnen von Online-Petitionen, zum Schreiben von Protest-Mails, zum Demonstrieren – allesamt von FLINTA*-Personen.
All diese Fälle – und es sind nur einige wenige Beispiele – machen deutlich: Wenn Frauenrechte abgeschafft werden, dann kommt der lauteste Widerstand stets von Frauen*. Die Männer bleiben passiv – und ich frage mich ehrlich gesagt langsam, wieso. Bei anderen Themen – Klima, Armee, oder Migrationspolitik, um nur einige wenige zu nennen – glänzen unsere Männer ja nicht gerade mit vornehmer Zurückhaltung. Was also bringt sie zum Schweigen, wenn es um Frauenrechte geht?
Rosanna Grüter
Ich habe sechs mögliche Antworten auf diese Frage. Fünf davon haben mit Angst zu tun, eine mit dem Zerfall unserer Gesellschaft in «Bubbles» oder «Lager».
1) Männer haben Angst vor ihren eigenen Privilegien
Wenn Männer sich als «gut» sehen, ist es unbequem, zuzugeben, dass sie von einem System profitieren, das Frauen benachteiligt. Schweigen ist einfacher als Selbstreflexion.
2) Männer wollen «cool» wirken vor anderen Männern
Viele Männer fürchten, von anderen Männern als «weich» und «weiblich» abgestempelt zu werden, wenn sie sich klar für Frauenrechte einsetzen.
3) Männer drücken sich vor der Verantwortung
Wenn Männer sich einmischen, müssen sie auch handeln: in Partnerschaften, in Familien, im Job, im Parlament. Schweigen ist bequem – es verlangt nichts. Und die meisten Männer, die ich kenne, sind faul.
Rosanna Grüter
4) Männern ist ihre eigene Macht suspekt
Viele Männer wollen nicht wahrhaben, dass sie Macht haben – über Frauen, über Kinder, über Geld, Ressourcen, über Entscheidungen. Schweigen ist eine Art, diese Macht unsichtbar zu machen und damit am Ende des Tages auch zu präservieren.
5) Männer haben Angst vor ihren Gefühlen
Wenn Männer sich mit patriarchaler Gewalt, Sexismus und Misogynie auseinandersetzen würden, dann müssten sie sich mit ihrer eigenen Wut und ihrem eigenen Schmerz konfrontieren – und das tut weh.
6) Männer leben in einer anderen Welt als wir Frauen
Viele Männer schweigen, weil sie buchstäblich in einer anderen leben: Sie wissen, wie der F‑35 heisst, welche Partei zuletzt in der „Arena“ ausgerastet ist und wie ihre Kryptos stehen – aber nicht, dass Femizide zunehmen oder was der Nationalrat zum Schutz vor Gewalt an Frauen entschieden hat. Ihre Medienfeeds, Chats und Gespräche drehen sich um Krieg, Märkte, Fussball, Technologie; Gewalt gegen Frauen taucht dort – wenn überhaupt – als Randmeldung auf. Wer ein Problem nie wahrnimmt, und kann sein Schweigen bequem mit „Ich hab das gar nicht mitbekommen“ erklären.
Für diese letzte Hypothese spricht, was sich in einer meiner queer-feministischen Chat-Gruppen nach dem Nationalratsentscheid zugetragen hat: Während die einen sich erstens über den eklatanten Mangel an Männerstimmen ereiferten und die anderen zweitens die wenigen Männer in ihrer Bubble lobten, die eben nicht geschwiegen hätten, meldete sich drittens ein einzelner Mann mit einer irgendwie bewegenden Nachricht zu Wort. Sie ging in etwa so:
«Ich weiss, dass die Männer geschwiegen haben – auch ich! – und ich schäme mich dafür. Ich überfliege morgens unter anderem den Tagi-Newsletter, und da stand nix zum Nationalratsbeschluss – dafür Tipps zum besser schlafen und wie du am besten durch die Baustelle am Sihlquai manövrierst. Ich muss meinen News-Konsum ändern!»
Irgendwie hat mich diese Nachricht sehr gerührt. Nicht, weil sie per se positive Rückschlüsse auf den Zustand der Welt zuliesse – im Gegenteil: dass wir zunehmend in unterschiedlichen Bubbles leben, ist ein Hinweis auf den Zerfall ebendieser. Aber: Wenn Männer tatsächlich unter anderem darum Schweigen, weil sie vom Schweregrad des Problems gar nichts wissen, weil ihre Algorithmen und Filterblasen sie vor «unbequemen« Frauenrealitäten abschirmen, dann wäre ihr Schweigen zumindest kein bewusster Akt der Bosheit, sondern eine lösbare Informationslücke. Oder anders: Wenn sie wüssten, dass Schafe im Budget Priorität vor Frauenleben haben, würden vielleicht mehr von ihnen aufwachen.
Rosanna Grüter
Das ändert nichts an der Tatsache des Schweigens der meisten Männer, aber es zeigt einen möglichen Hebel auf: Wir müssen dafür sorgen, dass diese Realität nicht länger ausblendbar ist. Dass sie in ihren Feeds landet. Dass es unmöglich wird, morgens aufzustehen, irgendeinen Newsletter zu lesen und nichts davon mitzubekommen, wie es um die Sicherheit von uns Frauen steht. Denn Unwissenheit mag eine Erklärung sein – eine Entschuldigung ist sie nicht.



