Ob fürs Alter, Unvorhergesehenes oder die Erfüllung materieller Träume – die Wichtigkeit des Sparens wird uns schon früh beigebracht. Vor allem in der Schweiz, die im internationalen Vergleich als Sparer:innen-Nation gilt. Eine Studie des Bundesamtes für Statistik zeigt allerdings: In der Schweiz können rund 40 Prozent der Bevölkerung kaum etwas ansparen. Es sind also nicht nur Geringverdiener:innen, die Ende Monat kaum Geld übrig haben, sondern auch Haushalte aus dem Mittelstand. Vor allem bei den Familien reicht das Einkommen bei fast der Hälfte nur knapp für die Bedürfnisse des täglichen Lebens – das zeigt das aktuelle Schweizer Familienbarometer.
Die Lebenshaltungskosten steigen
Die Gründe für diese Zahlen kennt Melanie Häner, Bereichsleiterin Sozialpolitik am Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern. Im vergangenen Jahr seien die Lebenshaltungskosten in der Schweiz im Schnitt um knapp drei Prozent gestiegen, erklärt die Expertin. Diese Teuerung trifft aber nicht alle Haushalte gleich: «Aktuell sind die Kategorien Wohnen, Energie und Lebensmittel besonders stark von der Teuerung betroffen. Das belastet die unteren und mittleren Einkommen am meisten, weil diese Ausgabeposten bei ihnen verhältnismässig stark ins Gewicht fallen», sagt Häner. Laut einer Studie von Pro Familia und Pax sind es vor allem die steigenden Gesundheits- und Wohnkosten, die Familien aktuell besonders beschäftigen.
- Wohnkosten: Eine 3.5-Zimmer-Wohnung im Kanton Zürich kostet im Durchschnitt knapp 1700 Franken netto. Bis Ende Jahr wird erwartet, dass die Mieten in der Schweiz bis zu acht Prozent teurer werden. Dazu kommen Nebenkosten und Energiekosten – wobei die Energiepreise rund 26 Prozent höher sind als im Vorjahr.
- Gesundheitskosten: Auch die Krankenkassenprämien sind 2023 um 6.6 Prozent angestiegen. Die Gesundheitsausgaben betragen dadurch momentan durchschnittlich 335 Franken pro Monat. Fürs nächste Jahr ist mit weiteren hohen Anstiegen zu rechnen.
- Lebensmittel: Teurer wurden aber auch Lebensmittel – im Schnitt 5.4 Prozent. Dieser Posten macht im Schnitt rund 640 Franken pro Monat und Haushalt aus.
So geht es auch Anna*, die zusammen mit ihrem Mann und zwei Kindern im Kanton Luzern lebt. Sie sagt: «Unser grösster Ausgabeposten ist die Miete. Sie beträgt rund 2‘000 Franken im Monat. Momentan spüren wir aber vor allem die höheren Energie- und Lebensmittelpreise. Das macht für uns zusätzlich rund 100 Franken im Monat aus.» Laut Bundesamt für Statistik gehört Annas Familie zur sogenannten Mittelschicht. Das Bruttoeinkommen der Familie beträgt 8‘900 Franken im Monat und damit knapp 107‘000 Franken im Jahr. Genau da liegt auch die Schwelle, damit ein Paarhaushalt oder eine Familie in der Schweiz zur Mittelschicht zählt.
Nach Abzügen der sogenannten «obligatorischen Transferausgaben» – dazu gehören Sozialversicherungen, Steuern und Krankenkassenprämien der Grundversicherung – bleibt Annas Familie ein verfügbares Haushaltseinkommen von 75'000 Franken im Jahr. Damit bezahlt die Familie also unter anderem die Miete, Essen, Versicherungen, Kleider, Freizeitangebote und so weiter. Anna sagt: «Wir sind schon jetzt sehr sparsam. Deshalb machen mir die steigenden Lebensunterhaltskosten Sorgen, weil ich nicht wüsste, wo wir noch Abstriche machen könnten.» Mit diesen Sorgen ist ihre Familie nicht allein: 68 Prozent der Familien glauben, dass sich ihre Situation in den nächsten drei Jahren verschlechtern wird.
Trotz Lohnerhöhungen im Jahr 2022 haben die Schweizer:innen einen Kaufkraftverlust erlitten. Im Vergleich zu den Ausgaben sind die Löhne nämlich weniger stark angestiegen – real gingen sie im Schnitt um 1,8 Prozent zurück. Eine Studie der UBS spricht vom stärksten Reallohnverlust seit 80 Jahren.
Betreuungspflichten als finanzielle Hürde
Trotz allem schaffen es Anna und ihre Familie, im Monat 500 Franken zu sparen: «Dieses Geld brauchen wir, um als Familie mit dem Wohnmobil campen zu gehen. Das ist unser Luxus und darauf sparen wir.» Damit kann Annas Familie mehr sparen als viele Haushalte aus den unteren Einkommensklassen. Ein Blick in die Zahlen zeigt: Obwohl die Schweiz im internationalen Vergleich eine hohe Sparquote hat, trifft dies noch lange nicht auf alle Einkommensklassen zu. Nach Abzug der Sozialversicherungen, Steuern, Versicherungen und Konsumausgaben für Wohnen, Lebensmittel und Bekleidung können 40 Prozent der Haushalte nichts oder nur sehr wenig zur Seite legen. Die obersten 20 Prozent der Bevölkerung hingegen können rund ein Viertel ihres Einkommens sparen.
Die Hintergründe, weshalb gerade bei Familien Ende Monat nicht viel übrig bleibt, sind vielfältig. Insbesondere die Betreuungspflichten von Eltern mit Kindern belasten das Haushaltseinkommen und damit die Sparquote beachtlich. Da sind zum einen die Kosten für externe Betreuungen, die in der Schweiz verhältnismässig sehr hoch sind – mindestens 26 Prozent eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens frisst ein Vollzeit-Kita-Platz in der Schweiz auf. Wenn zwei Kinder in der Kita betreut werden, verschlingt das gar 35 Prozent des Familiengehalts. Gewisse Berechnungen gehen sogar von bis zu 46 Prozent aus, abhängig vom Einkommen und der Zahl der Kinder. «Ausserdem arbeiten viele Eltern, insbesondere Frauen, Teilzeit, um die Kinder betreuen zu können. Das zeigt sich natürlich in ihrem Lohn und schliesslich auch in der Sparquote», erläutert Melanie Häner.
Die Mittelschicht profitiert kaum von Subventionen
Zwar gibt es in der Schweiz staatliche Subventionen, gerade auch für Familien mit Kindern, aber davon profitieren Familien aus dem Mittelstand häufig nicht. Häner sagt: «Das Schweizer System sichert zwar die Grundbedürfnisse für die gesamte Bevölkerung, setzt aber auch relativ stark auf Eigenverantwortung.» Das schlägt sich unter anderem bei den Krankenkassenprämien nieder. Im Kanton Zürich beispielsweise muss das Bruttoeinkommen eines Paares mit zwei Kindern unter 86‘000 Franken im Jahr liegen, damit es staatliche Unterstützung in Form von Prämienverbilligungen gibt. Auch Annas Familie hat keinen Anspruch auf Prämienverbilligungen. Und selbst wenn in der Schweiz rund ein Viertel der Bevölkerung von Prämienverbilligungen profitiert, hat sich die durchschnittliche Prämienbelastung von Haushalten mit eher tiefen Einkommen in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt.
Bei den Subventionen für Kinderbetreuung sieht es ähnlich aus: Stand heute erhält ein Paarhaushalt mit einem steuerbaren Einkommen von jährlich über 70‘000 Franken in manchen Kantonen keine Subventionen mehr und bezahlt damit Maximaltarife von bis zu 130 Franken pro Kind und Tag. In anderen Kantonen wiederum gibt es mehr Subventionen beziehungsweise ist der Maximaltarif tiefer angesetzt, wie zum Beispiel im Tessin bei 90 Franken. Der Minimaltarif wiederum kann von 10 Franken im Kanton Bern bis zu 80 Franken im Kanton Schwyz reichen.
Laut Häner seien die fehlenden Subventionen aber nicht der Hauptgrund, dass Eltern ihre Kinder nicht in die Kita schicken: «Gemäss der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung nehmen nur elf Prozent der Haushalte die Kitas primär aus Kostengründen nicht in Anspruch. Rund 78 Prozent der Eltern geben an, dass sie keinen Bedarf hätten.» Die Expertin stimmt dieser Fakt optimistisch, dass die extremen interkantonalen Unterschiede hinsichtlich Subventionen die Nachfrage nach Kitaplätzen auch widerspiegeln.
Kinder haben ihren Preis
Doch der anscheinend nicht vorhandene Bedarf hat ebenfalls seinen Preis. Häner sagt: «Die Schweiz ist das Land der Grosseltern – sehr häufig werden Kinder von ihren Grosseltern oder aber von den Eltern selbst betreut.» Dies führt dazu, dass manche Grosseltern – notabene häufig Grossmütter – einen Teil ihrer Erwerbsarbeit früher aufgeben und so ihre Rente schmälern. Oder aber die Eltern arbeiten Teilzeit, was sowohl kurz- als auch langfristige finanzielle Folgen fürs Haushaltseinkommen hat. So ist es übrigens auch bei Anna. Sie sagt: «Mein Mann und ich arbeiten beide Teilzeit – ich 60 und er 80 Prozent. Zum Glück schauen die anderen Tage die Grosseltern zu unseren Kindern.»
Die strukturellen Gegebenheiten wie die Höhe der Subventionen haben also durchaus einen Einfluss auf die Entscheidungen von Familien – und damit auf ihre finanzielle Zukunft. Häner sagt: «So kann es beispielsweise sein, dass Menschen ihre Arbeitszeiten reduzieren, da sie mit geringfügig niedrigen Einkommen teils von mehr staatlichen Subventionen profitieren.»
Wege zur finanziellen Entlastung
Welche Massnahmen würde die finanzielle Situation von Familien verbessern? Im aktuellen Familienbarometer geben 60 Prozent der befragten Haushalte an, dass die Senkung der Kita-Tarife die Kinderbetreuung am stärksten verbessert werden könnte – also deutlich mehr als die elf Prozent, die primär aus Kostengründen die Kita nicht in Anspruch nehmen. Weiter nennen die Familien die Senkung der Krankenkassenprämien als wichtigste familienpolitische Massnahme.
Diesem Aspekt räumt auch Häner hohe Priorität ein: «Wir müssen meiner Meinung nach vor allem die steigenden Lebenshaltungskosten bekämpfen und deshalb die Preisstabilität in der Schweiz sicherstellen.» Aus der Forschung gebe es nämlich klare Erkenntnisse, dass stabile Preise nicht nur für die ganze Volkswirtschaft wichtig sein, sondern eben auch, damit sich das Einkommensgefälle in der Bevölkerung nicht vergrössert.
*Name der Redaktion bekannt