Die Europäische Union hat kürzlich bereits ihr viertes Sanktionspaket gegen Russland verhängt. Haben die bisherigen Sanktionen ihre Wirkung verfehlt?
Nein, die Finanzsanktionen und Kapitalmarktrestriktionen, die von der EU bereits verhängt wurden, sind sehr wirksam. Sie isolieren die russische Wirtschaft und schränken deren Handlungsfähigkeit stark ein. Insofern haben sie auf wirtschaftlicher Ebene Wirkung gezeigt, das spürt auch die russische Bevölkerung.
Russland scheint nicht beeindruckt zu sein?
Die bisherigen Sanktionen haben tatsächlich keine Handlungsveränderung der russischen Führungselite herbeigeführt. Deshalb nun dieses vierte Sanktionspaket der EU, das signalisiert: Wir sind bereit für weitere Sanktionen, bis es zu einer militärischen Deeskalation kommt.
Bei den Finanzsanktionen gilt der Ausschluss aus dem Zahlungssystem Swift als die sogenannte finanzpolitische Atombombe. Zu Recht?
Ein Swift-Ausschluss ist grundsätzlich eine sehr wirksame Sanktion, weil sie den internationalen Zahlungs- und Warenverkehr deutlich erschwert. Internationale Zahlungen sind zwar auch ohne Swift möglich, jedoch nur über veraltete Systeme oder mit Umgehungsversuchen über andere Banken.
Wurde tatsächlich das ganze Swift-System gesperrt?
Wir haben bisher erst einen selektiven Swift-Ausschluss gesehen, es sind also nicht alle russischen Banken betroffen. Insbesondere sind die beiden Banken «Sberbank» und «Gazprombank» nicht von Swift ausgeschlossen, weil sie bei der Abwicklung von Öl- und Gaslieferungen eine entscheidende Rolle spielen.
Als wichtigste Kapitalmarktrestriktion gilt die Abkoppelung der russischen Zentralbank vom Ausland. Was bedeutet das?
Diese Sanktion bedeutet, dass die russische Zentralbank nicht mehr auf ihre Währungsreserven im Ausland zugreifen kann. Seit 2014 hat Russland seine Währungsreserven auf 630 Milliarden US-Dollar verdoppelt. Allerdings werden diese Reserven nicht nur im Inland gebunkert, sondern die Hälfte davon liegt als Forderung gegenüber ausländischen Banken im Ausland.
Wozu bräuchte die russische Zentralbank diese Währungsreserven momentan?
Ohne Zugriff auf die Währungsreserven im Ausland kann die russische Zentralbank den Einbruch der Wirtschaft nur bedingt abfedern. Die russische Währung, der Rubel, wurde in den letzten Wochen massiv abgewertet. Seine Kaufkraft hat deutlich abgenommen, weshalb sich Importprodukte aus dem Westen wie beispielsweise medizinische Produkte oder Kleider massiv verteuert haben.
Auch Visa, Mastercard und American Express wurden in Russland eingestellt. Ist damit das russische Zahlungssystem lahmgelegt?
Nein, das russische Zahlungssystem ist nicht lahmgelegt, weil nur die westlichen Kreditkartenanbieter eingestellt wurden. Russland hat sich zudem seit 2014 ein eigenes Zahlungsverkehrssystem aufgebaut, das für innerrussische Transaktionen funktioniert. Andererseits könnte Russland auch einen kompletten Ausschluss aus Swift umgehen, indem das chinesische Zahlungsverkehrssystem verwendet wird.
Viele Sanktionen zielen direkt auf die Führungselite ab. Inwiefern bekommt die russische Bevölkerung die Sanktionen trotzdem zu spüren?
Die Bevölkerung Russland spürt die Sanktionen hauptsächlich durch die massive Abwertung des Rubels. Die Russ:innen können sich weniger leisten, und importierte Güter werden unbezahlbar. Andererseits haben sich diverse westliche Firmen wie H&M oder McDonalds aus moralischer Disziplin aus Russland zurückgezogen, das merkt natürlich auch die Bevölkerung.
Welche Rolle spielen Kryptowährungen in dieser Debatte? Inwiefern können damit Sanktionen gezielt umgangen werden?
Solange es keine konkreten Sanktionen gibt, die Kryptowährungen einschliessen, können diese auf jeden Fall als Auswegkanäle verwendet werden. Inwiefern Kryptowährungen aber als Umgehungsweg genutzt werden, ist schwierig zu beziffern.
Als Achillesferse von Europa werden die Öl- und Gasimporte aus Russland gesehen. Wäre ein völliges Abschneiden der Importe tatsächlich undenkbar?
Nein, eine völlige Einstellung von Öl- und Gaslieferungen aus Russland ist nicht undenkbar. Aber diese Massnahme wäre mit hohen ökonomischen Kosten auf beiden Seiten verbunden. Im Bereich der Energielieferungen ist die europäische Wirtschaft abhängig von Russland, rund 44 Prozent des Gasverbrauchs der EU stammen von dort. Aber auch Russland ist angewiesen auf europäisches Geld. Insofern trauen sich beide Seiten noch nicht, diese Drohung in Realität umzusetzen.
Was bedeutet dieser Krieg aus Ihrer Sicht für erneuerbare Energien? Wird es einen Boost geben?
Die EU hat bereits angekündigt, die Abhängigkeit von russischem Gas bis Ende 2022 um zwei Drittel reduzieren zu wollen. Das gelingt nur durch energetische Alternativen. Dazu gehören einerseits Flüssiggasimporte aus anderen Ländern, andererseits der Ausbau von erneuerbaren Energiequellen. Ich rechne mit massiven Investitionen in Solarthermie und Windkraft sowie der Förderung von erneuerbare Energiequellen wie Wärmepumpen in den Haushalten.
Wie werden wir die Sanktionen auch in unserem Alltag in Europa zu spüren bekommen?
Aktuell spüren wir in Europa die Sanktionen ähnlich wie die russische Bevölkerung: Die europäischen Bürger:innen konnten zusehen, wie die Energiepreise in die Höhe geschnellt sind. Das betrifft nicht nur den Gaspreis, sondern auch den damit stark korrelierenden Strompreis sowie die Benzinpreise. Das alles schlägt sich schliesslich auch auf die Inflation nieder, diese hat auch innerhalb der Eurozone stark zugenommen.
Gibt es weitere Produkte, bei denen ein Preisanstieg spürbar ist?
Die unmittelbare Betroffenheit der Bevölkerung ist auch durch den Preisanstieg in vielen anderen Sektoren gegeben. Im Agrarsektor sind Russland und die Ukraine wichtige Exporteure von beispielsweise Weizen oder Ölfrüchten. Der Lebensmittelsektor spürt also einerseits die Verknappung von agrarischen Rohstoffen, andererseits aber auch die steigenden Energiepreise. Viele Prozesse in der Lebensmittelindustrie beruhen nämlich auf Erdgas.
Und andere Länder ausserhalb von Europa?
Andere Länder, insbesondere in Nordafrika, sind noch viel stärker abhängig von Rohstoffen aus Russland und der Ukraine. Dort werden die Lebensmittelpreise ins Unermessliche steigen. Mittelfristig könnten diese Preisanstiege in ärmeren Regionen der Welt auch zu Hungerkrisen führen oder die soziale Stabilität dieser Länder gefährden.
Welche Unternehmen profitieren von diesem Krieg?
Auf dem europäischen Kontinent profitieren derzeit sicherlich Unternehmen, die erneuerbare Energiequellen fördern oder produzieren. Dieser Sektor wird unmittelbaren Nutzen ziehen aus einer Energiewende, die schneller vonstatten geht, als im Rahmen des europäischen Green Deals zunächst angedacht war.
Und die Rüstungsindustrie?
Angesichts der Bestrebungen der Europäischen Union, die militärischen Ausgaben zu erhöhen, werden auch die Rüstungsunternehmen profitieren. Das sind in Europa allerdings nicht derart viele; aber auch amerikanische Unternehmen in der Rüstungsindustrie werden davon profitieren.
Was beinhaltet das vierte und neueste Sanktionspaket der EU?
Das vierte Sanktionspaket der EU beinhaltet ein Exportverbot von beispielsweise Luxusgütern wie PKW, ein Importverbot für Stahl und Eisen sowie ein Verbot von Investitionen in den Öl- und Energiesektor. Es beinhaltet aber auch einen Ausschluss Russlands aus dem WTO-Meistbegünstigungsverfahren.
Was bedeutet ein Ausschluss aus dem Meistbegünstigungsverfahren der Welthandelsorganisation WTO?
Bisher waren die Zollsätze auf russische Produkte und Dienstleistungen im Rahmen des Meistbegünstigungsverfahren nach oben begrenzt. Der durchschnittlich angewendete Meistbegünstigungs-Zollsatz lag bei 6.6 Prozent. Durch diesen Ausschluss können die einzelnen WTO-Mitgliedsländer nun beliebige Zölle und Quoten auf russische Importe erlassen.
Zum Beispiel?
Beispielsweise könnten die WTO-Mitgliedsländer auf Öl- und Gasimporte einen Zollsatz von 20 Prozent verhängen. Dadurch würden Energieimporte aus Russland massiv teurer werden. Das würde dann den Handel nochmals stark einschränken, hätte aber auch höhere Energiepreise zur Folge. Die Ausgestaltung ist sehr breit.
Welche Auswirkungen wird diese Sanktion haben?
Die Zölle und Quoten werden nach oben schnellen und vermutlich auch zu Gegensanktionen von Russland führen. Das könnte den Handel zwischen Russland und der EU, der bisher nur teilweise von Sanktionen betroffen war, zum Erliegen bringen und einen Handelskrieg auslösen.
Welche weiteren Sanktionen wären aus Ihrer Sicht noch denkbar?
Weitere einzelne Handelssanktionen wären beispielsweise, dass bestimmte Produkte oder Rohstoffe aus Russland nicht mehr importiert werden dürfen. Ich denke hier beispielsweise an Palladium oder Nickel. Es könnte auch noch ein gänzlicher Swift-Ausschluss aufs Tapet kommen, dass also auch die «Sberbank» und die «Gazprombank» von Swift ausgeschlossen werden.
Wie hoch wäre die Wirksamkeit dieser Sanktionen?
Es gibt noch etwas Spielraum nach oben, aber von der Schlagkraft her sind diese geringer als die bisherigen Sanktionen. Schliesslich wäre ein Öl- und Gasembargo das schärfste Sanktionsmittel, das beide Seiten noch hätten, aber mit den genannten Kosten und Einschränkungen.
Was bedeuten diese Sanktionen langfristig für die Handelsbeziehungen zu Russland?
Die Handelsbeziehungen zwischen der EU und Russland sind seit 2014 deutlich schwächer geworden. Die Sanktionen, die bereits seit 2014 bestehen, haben der russischen und der europäischen Wirtschaft Kosten verursacht. Bei Russland sind es zwei bis drei Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung, in der EU 0.2 Prozent. Vor diesem Hintergrund hat Russland seit 2014 seine Widerstandsfähigkeit aufgebaut durch Währungsreserven und durch die Intensivierung der Handelsbeziehungen mit China. Dennoch ist die EU für Russland nach wie vor wichtigster Exportmarkt.
Wird die EU das auch in Zukunft bleiben?
Das könnte sich im Zuge dieser neuen Sanktionen langfristig ändern. Die EU wird versuchen, sich im Energiebereich unabhängiger von Russland zu machen und Russland wird vermutlich die Handelsbeziehungen mit China intensivieren und die Abhängigkeit vom europäischen Markt verringern.
Elisabeth Christen ist Ökonomin am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung WIFO und arbeitet seit 2013 im Forschungsbereich «Industrieökonomie, Innovation und internationaler Wettbewerb». Ihre Forschungsschwerpunkte sind die empirische Analyse internationaler Handelsfragen, einschließlich ausländischer Direktinvestitionen, die Internationalisierungsstrategien multinationaler Unternehmen und der Handel mit Dienstleistungen. Zudem untersucht sie die Rückwirkungen des internationalen Handels auf den Arbeitsmarkt und beschäftigt sich mit Fragen zur Handelspolitik.