Vielleicht kennst du es: Schlecht geschlafen und sich zur morgendlichen Motivation einen Flat White und ein Pain au Chocolat gegönnt. Sich bei der Arbeit aufgeregt oder gelangweilt und auf dem Nachhauseweg eine Duftkerze oder einen neuen Nagellack gekauft. Oder Ferien gebucht und sich so gefreut, dass man gleich drei Bücher bestellt hat. Die Duftkerze hast du dann vielleicht zwei Mal angezündet, der Nagellack wanderte nach einmal Lackieren zu den anderen im Schrank, und 2,5 der gekauften Bücher starren dich seit einem halben Jahr ungelesen an.
Willkommen im Club der «Emotional Spender». Das sind Menschen, die mit dem Kauf von Dingen ihre Gefühle regulieren. Um das genauer zu verstehen, muss man zuerst ein paar Dinge voneinander unterscheiden. Gefühle sind grundlegender Bestandteil unseres Konsumverhaltens.
«Dass wir uns häufig von unseren Emotionen lenken lassen, wenn wir eine Kaufentscheidung treffen, ist noch kein Emotional Spending», sagt Anne Herrmann. Sie ist Professorin für Wirtschaftspsychologie an der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW und betont, dass unsere Kaufentscheide selten rational sind. Selbst etwas Banales wie Äpfel oder Waschmittel kaufen wir nicht rein rational. Wir wählen Werte oder Versprechen. Wir kaufen beispielsweise Demeter-Äpfel vom Bauern, weil wir eine pestizidfreie Landwirtschaft und/oder lokales Gewerbe unterstützen wollen. Oder das Waschmittel, das ohne künstliche Farb- und Duftstoffe auskommt, weil wir «natürliche» Inhaltsstoffe für gesünder halten.
Die Mechanismen hinter Emotional Spending
Emotional Spending funktioniert anders: «Bei Emotional Spending kauft man etwas, das man nicht wirklich braucht oder bei dem man später feststellt, dass man es gar nicht will. Wir geben Geld aus als Reaktion auf bestimmte, meist negative Gefühle», erklärt die Wirtschaftspsychologin. Durch den Kauf fühlt man sich kurzfristig gut.
Als Beispiel nennt Herrmann den Beginn der Coronapandemie: Die Pandemie und die damit einhergehenden Massnahmen waren für viele ein enormer Stressfaktor und lösten starke negative Gefühle aus. Gleichzeitig wurden zahlreiche emotionsregulierende Aktivitäten wie beispielsweise gesellige Hobbies oder sozialer Austausch mit Freund:innen unmöglich. «Dadurch verstärkten sich die Stress- und Angstgefühle zusätzlich. Das führte bei vielen zu Emotional Spending», so Herrmann. Spielkonsolen, Einrichtung für Balkon oder Garten oder Sportgeräte für zu Hause gehörten zu den meistgekauften Dingen.
Gibt es Menschen, die besonders anfällig sind für Emotional Spending? Anne Herrmann nennt keine geschlechtsbezogenen Unterschiede: «Es sind vor allem Menschen betroffen, bei denen Kaufen gute Gefühle auslöst.»
Ein Beispiel: Nehmen wir an, du fühlst dich im Moment nicht wertgeschätzt oder gesehen bei der Arbeit. Wenn jetzt ein Barista morgens einen Kaffee für dich zubereitet und womöglich sogar Latte Art darauf zeichnet, löst das warme, sorgfältig zubereitete Getränk vermutlich ein Gefühl von Wertschätzung aus. Du hast zwar dafür bezahlt, aber der Barista hat etwas für dich gemacht. Vielleicht hat er dich sogar noch freundlich angelächelt dabei. Du fühlst dich gut behandelt und bereit, ins Büro zu gehen.
Problemlos oder problematisch?
Wie schlimm ist es da, die eigenen Gefühle mit einem morgendlichen Kaffee zu regulieren? «Natürlich kann man einwenden, dass es jedem schon einmal so gegangen ist: Man hat einen schlechten Tag und will sich etwas Nettes gönnen. Das ist durchaus legitim», so Herrmann. Sich ab und zu einen Kaffee mit Zimtschnecke zu gönnen, weil die Arbeitskolleg:innen nerven, man frustriert ist, weil man eine unangenehme Aufgabe erledigen muss oder man sich gestritten hat mit dem Partner, sei kein Problem.
Problematisch ist es, wenn dieses Verhalten zur Gewohnheit wird, die Ausgaben nicht angemessen sind fürs eigene Budget und vor allem, wenn es das einzige Mittel ist, um mit schwierigen Gefühlen umzugehen: «Wenn Emotional Spending der primäre Bewältigungsmechanismus ist, führt das leicht zu einem Teufelskreis: Exzessives Emotional Spending hat negative finanzielle Folgen, weil man zu viel Geld ausgibt. Das führt wiederum zu negativen Gefühlen, die erneut mit Emotional Spending kompensiert werden», erklärt Herrmann.
Dort verläuft auch die Grenze zur Kaufsucht: «Die Kaufstörung oder die Kaufsucht ist ein starker Drang, immer wieder unnötige Dinge zu kaufen, trotz der negativen finanziellen, emotionalen und sozialen Folgen. Diese negativen Folgen sind der Person zwar – wie auch bei anderen Süchten – bewusst. Trotzdem gelingt es ihr nicht, das Verhalten zu reduzieren oder abzustellen.»
In der Schweiz sind gemäss einer Untersuchung des BAG 4.8 Prozent der Bevölkerung krankhaft kaufsüchtig. 21 Prozent, also jede fünfte Person, zeigt eine Vorstufe von krankhafter Kaufsucht. In dieser Vorstufe bewegt sich auch Emotional Spending. Wie viele Menschen effektiv von Emotional Spending betroffen sind, ist schwierig herauszufinden. Wissenschaftliche Zahlen findet man kaum. Zwar befragten private amerikanische oder britische Kreditfirmen ihre eigene Community, und an diesen Umfragen nahmen über 1000 Personen teil.
Manche dieser Umfragen kommen zum Schluss, dass fast 90 Prozent der Befragten Emotional Spending betrieben haben und dass Frauen und jüngere Menschen mehr davon betroffen sind. Die Ergebnisse aus diesen Umfragen sind jedoch mit Vorsicht zu geniessen, da weder die Datengrundlagen noch die Fragestellungen transparent sind. Auch die Ergebnisse der BAG-Umfrage widersprechen diesen Aussagen.
Einflüsse unserer Konsumgesellschaft
Dass viele die Strategie «Kaufen» nutzen, um sich besser zu fühlen, liegt aber nicht nur an uns Individuen. Emotional Spending wird in einer konsumgetriebenen Gesellschaft aktiv gefördert. Das bestätigt auch Anne Herrmann: «Händler werben explizit damit, dass wir online jederzeit spontan einkaufen können. Passend dazu können wir mit TWINT, hinterlegten Kreditkarten und In-App-Käufen mühelos bezahlen.»
Auch soziale Medien nehmen eine entscheidende Rolle ein. Influencer:innen verdienen ihr Geld damit, dass sie Produkte bewerben: «Wir Nutzer:innen besuchen die App aber erwiesenermassen dann, wenn wir uns ablenken wollen. Wenn schlechte Laune auf massgeschneiderte, vermeintlich authentische Produktwerbung trifft, lassen wir uns schneller zum Kaufen verleiten.»
Wie du selbstbestimmter mit Emotional Spending umgehst
Wir bewegen uns also in einer Gesellschaft, in der es uns leicht gemacht wird, Geld auszugeben. Das heisst jedoch nicht, dass du machtlos dagegen bist. Wenn du dich in einigen Situationen wiedererkannt hast und dich erfolgreich gegen Emotional Spending wehren willst, hat Anne Herrmann verschiedene Tipps für dich:
- Online-Shopping ist einfach und schnell. Mach es dir schwer: Stell deine Browser-Settings so ein, dass du dich auf allen Shopping-Webseiten mühselig wieder neu anmelden musst, und lösch alle Einkaufs-Apps auf deinem Handy.
- Stell persönliche Regeln auf: Du darfst die Produkte in den Online-Warenkorb legen, musst aber mindestens 24 Stunden warten, bis du sie bestellst. So kannst du dich von negativen Emotionen ablenken und hast noch kein Geld ausgegeben.
- Such dir andere Wege zur Arbeit oder nach Hause, wenn du weisst, dass bestimmte Läden oder Cafés dich schnell zum Kaufen verleiten.
- Ändere nicht nur dein Verhalten, sondern such nach der Ursache. Entwickle Wege, um mit negativen Gefühlen umzugehen:
- A. Lerne deine verschiedenen negativen Gefühle kennen, indem du dir in einem ersten Schritt bewusst machst, wie du dich fühlst: Bist du gestresst? Nervös? Gelangweilt? Besorgt?
- B. Beobachte dein Verhaltensmuster und versuch es zu ändern: Wenn du dich beispielsweise nach einem langen Arbeitstag niedergeschlagen fühlst und fast schon automatisch auf dem Handy in einem Online-Shop scrollst, kannst du stattdessen bewusst einen Spaziergang machen oder einem Hobby nachgehen. Fühlst du dich dagegen eher gestresst, hilft es dir womöglich eher, kurz zu meditieren oder die Zimmerpflanzen zu giessen. Probier aus, welche Aktivitäten dir dabei helfen, mit den jeweiligen negativen Emotionen besser umzugehen.
- Mach dir bewusst, wie viel dich Emotional Spending kostet, nicht nur finanziell, sondern auch in Bezug auf deine Zeit. Stundenlang nach dem perfekten Wohnzimmerteppich zu suchen, hindert dich letztlich daran, das zu tun, was du vielleicht lieber machen würdest: ein neues Rezept ausprobieren oder eine Wanderung mit Freund:innen organisieren.