Eine schmale Treppe mit Teppich führt in den obersten Stock im Frauenhaus Aargau-Solothurn, der Standort ist geheim. Die Unterkunft bietet Platz für maximal zehn Frauen und neun Kinder. «Momentan haben wir vier Frauen ausserkantonal unterbringen müssen», erzählt Betriebsleiterin Rosmarie Hubschmid. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die räumliche Distanz zum Täter zu klein ist oder er gar weiss, wo sich das Frauenhaus befindet. Oder dann, wenn alle Plätze im Frauenhaus belegt sind. Im vergangenen Jahr betrug die durchschnittliche Belegung der Betten im Frauenhaus Aargau-Solothurn 97 Prozent – während vier Monaten gar über 100 Prozent. 101 Frauen und Kinder konnten wegen Vollbelegung nicht aufgenommen werden und wurden entweder an andere Kantone verwiesen oder in Hotels untergebracht.
Wie viel Geld Frauenhäuser zur Verfügung haben, variiert je nach Kanton und Finanzierungsmodell. Die Bandbreite reicht von 50 bis knapp 335 Franken pro Übernachtung für eine Erwachsene. Eins aber haben alle gemeinsam: Ohne Spenden könnte der grösste Teil der Frauenhäuser in der Schweiz nicht überleben. 42 Prozent der Frauenhäuser und Notunterkünfte müssen bis zur Hälfte ihres Budgets für Kernleistungen durch Spenden und Einnahmen von Privaten bestreiten.
Extreme Überbelegungen, knappe finanzielle Mittel
«In der Deutschschweiz hat es aktuell praktisch keinen Platz mehr, und wir sind immer wieder verzweifelt am Plätze suchen», erklärt Silvia Vetsch. Sie ist Leiterin im Frauenhaus St. Gallen und im Vorstand der Dachorganisation der Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein (DAO). Die Überbelegungen seien schon länger ein Problem, führt sie aus. Jedoch: «So extrem wie im Moment habe ich es noch nie erlebt.»
Die kantonal unterschiedlichen Unterstützungsformen und die begrenzten finanziellen Mittel der Frauenhäuser führen zu einem gefährlichen Problem: Der Platz wird zu schnell knapp. Wirft man einen Blick auf die Kriminalstatistik, werden einem die Dimensionen bewusst: 2021 wurden 7’819 Frauen Opfer von häuslicher Gewalt. Darunter fallen etwa Drohung und Nötigung, sexuelle Belästigung und Vergewaltigung sowie versuchte und vollendete Tötungsdelikte. Der Bedarf nach Schutzunterkünften für Betroffene von häuslicher Gewalt ist also definitiv vorhanden und eine Unterfinanzierung der Schutzangebote kann unter Umständen Leben kosten.
Das erste Frauenhaus in der Schweiz eröffnete 1977. Eine landesweite Übersicht darüber, wie viel Geld in die Finanzierung von Frauenhäusern fliesst, gibt es bis heute nicht. Jeder Kanton entscheidet jährlich aufs Neue über die Budgets, die die Frauenhäuser selber einreichen müssen: «Somit sind die Frauenhäuser davon abhängig, ob eine Regierung die Notwendigkeit einer solchen Schutzunterkunft auch sieht», so Vetsch. Auch heute noch gibt es Kantone, die keinen Leistungsvertrag mit einem Frauenhaus haben, etwa Jura oder Schaffhausen. Frauen aus diesen Regionen müssen also in einen anderen Kanton ausweichen, wenn sie Schutz brauchen – und treffen dort eventuell auf ein bereits überfülltes Frauenhaus.
Spanien zeigt, wie es auch funktionieren könnte
Dass die Finanzierung der Frauenhäuser und Notunterkünfte in der Schweiz nicht national geregelt ist, findet auch Rosmarie Hubschmid vom Frauenhaus Aargau-Solothurn stossend. Den Grund dafür sieht sie unter anderem auf der gesellschaftspolitischen Ebene: «In der Schweiz sehen wir häusliche Gewalt noch immer als privates Problem an. Etwas, das hinter geschlossenen Türen geschieht und die Öffentlichkeit nichts angeht. Darum ist es einfach für die Politik, vor der Dringlichkeit einer geregelten Finanzierung immer wieder die Augen zu verschliessen.»
Im Gegensatz zur Schweiz versteht Spanien den Kampf gegen Gewalt an Frauen als Regierungsauftrag und steht auf der OECD-Liste der Länder, die Gender Budgeting fördern. Frauenhäuser werden hier vollumfänglich vom Staat finanziert. Spanien behandelt auch das Thema Femizide intensiv: Die Medien berichten über jeden einzelnen Fall ausführlich, die Präventionsmassnahmen werden jährlich ausgebaut. Das zeigt Wirkung, die Fälle nehmen Jahr für Jahr ab – bis auf die Zeit der Coronapandemie, die auch in Spanien zu einer Zunahme von häuslicher Gewalt führte. Seit Jahren werden zudem die Gesetze erweitert, die Frauen vor Gewalt durch ihren Partner schützen. Und seit Frühling 2022 gilt die «Ja heisst Ja»-Regel, die in der Schweiz aktuell im Rahmen der Reform des Sexualstrafrechts diskutiert wird.
Dass Spanien heute europaweit Vorreiter ist im Kampf gegen Gewalt an Frauen, gründet auch auf dem Gleichstellungsgesetz, das 2007 eingeführt wurde und einen grossen Teil der Umsetzung der Istanbul-Konvention regelt. Das Gesetz verlangt unter anderem, dass im jährlichen Staatsbudget Geld für Berichte über geschlechtsspezifische Gewalt vorgesehen wird. Seither werden alle Daten zu geschlechtsspezifischer Gewalt akribisch erfasst. In der Schweiz fehlt eine solche detaillierte Übersicht, eine entsprechende Motion lehnte der Nationalrat 2019 ab.
Eine gesetzliche Regelung zur Finanzierung der Strategie gegen Gewalt an Frauen wäre auch in der Schweiz nötig, findet Silvia Vetsch: «Das Opferhilfegesetz ist ein Bundesgesetz, so etwas bräuchte es analog auch für die Finanzierung von Frauenhäusern. Dies würde einen gewissen Mindeststandard garantieren, das fehlt momentan und macht eine nachhaltige Strategie gegen Gewalt an Frauen sehr schwierig.» Generell haben es politische Vorstösse zu Gender Budgeting hierzulande schwer: 2018 lehnte der Nationalrat ein Postulat zur Anstossfinanzierung von Frauenhäusern ab, im Frühling 2021 lehnte der Bundesrat eine Motion für eine befristete Rechtsgrundlage zur Finanzierung von Frauenhäusern ab. Und ein Jahr später bekämpfte der Bundesrat eine Motion für eine Präventionskampagne gegen häusliche Gewalt.
Viel Geld für die Armee, kein Geld gegen Gewalt an Frauen
In der Schweiz lässt man sich Zeit mit einer klaren Strategie gegen Gewalt an Frauen. Erst im April 2021 hat der Bund einen Präventionsplan für häusliche Gewalt ausgearbeitet. Diese Road Map soll in erster Linie die Koordination und Zusammenarbeit aller beteiligten Akteure stärken – die konkrete Umsetzung wird aber wieder den Kantonen überlassen. Zusätzlich lancierte der Bund im Juni 2022 einen nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen bis 2026. Im Zentrum stehen die weitere Sensibilisierung der Bevölkerung, Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen sowie die Bekämpfung von sexualisierter Gewalt. Zusätzliche Gelder für die Umsetzung der geplanten Massnahmen sind jedoch keine vorgesehen. Im Vergleich dazu wirkt die geplante Erhöhung des Armee-Budgets auf über sieben Milliarden Franken bis 2030 wie ein Hohn. Das Parlament hat dafür in der Sommersession grünes Licht gegeben – zusätzliches Geld für die Bekämpfung von Gewalt an Frauen ist aber offenbar weiterhin kein Thema für den Schweizer Staat.
Anders in Spanien: Bereits 2013 lancierte das Land einen vierjährigen Strategieplan für Gleichstellung und gegen Gewalt an Frauen und investierte 1.5 Milliarden Euro in die Umsetzung. Das Geld wurde unter anderem für Kampagnen zur Sensibilisierung der Bevölkerung eingesetzt, für eine bessere Schulung der Polizei und für die Entwicklung des Programms «VioGén»: Der Algorithmus kommt auf Polizeirevieren zum Einsatz und berechnet die Rückfallgefahr von Tätern in Fällen von häuslicher Gewalt. Das Programm gilt weltweit als eines der komplexesten seiner Art. Im Frühling 2022 lancierte Spanien den neuen Strategieplan, der bis 2025 gilt. Geplant sind diesmal 21.3 Milliarden Euro für die Umsetzung.
«Es ist ein Skandal, dass der Aktionsplan in der Schweiz ohne zusätzliche Ressourcen umgesetzt werden muss. Dies zeigt, dass es nicht um mehr geht, als Bestehendes abzudecken oder sogar noch zu sparen», sagt Simone Eggler von Brava (ehemals Terre des Femmes Schweiz) und Netzwerk Istanbul Konvention. Der Bund müsste sich stattdessen massiv mehr mit Geld und Personalressourcen beteiligen und die entsprechenden personellen Ressourcen aufstocken, so Eggler: «Da fragen wir uns schon: Wie ernst meint es die Schweiz mit dem Kampf gegen Gewalt an Frauen?»