Können wir noch in die Ferien fahren? Müssen wir jetzt umziehen? Verlieren wir das Auto? Nachdem sie bereits mehr verloren haben als die meisten Gleichaltrigen, spüren meine Kinder instinktiv, dass sie nun noch mehr verlieren könnten, auch ihr Zuhause. Einige ihrer Freund:innen haben alleinerziehende Mütter. Ihre Familien wohnen bescheidener als wir, und die Kinder sind oft allein zu Hause, weil ihre Mütter viel arbeiten müssen. Laut Statistik sind die Ängste meiner Kinder sehr begründet. Verwitwete Frauen büssen rund 50 Prozent ihres Einkommens ein. Viele Witwen kämpfen nach dem Hinschied ihres Partners deshalb nicht nur mit der Trauer, sondern ums wirtschaftliche Überleben. Verliert ein Mann seine Ehefrau, hat das hingegen praktisch keinen Einfluss auf seine Finanzen.
Nach dem Tod die Tortur: Witwen ohne Geld
Das Konto meines Mannes wurde eingefroren, noch bevor er beerdigt war. Auch wenn man verheiratet ist oder Einzelvollmachten für die Konten vorliegen, so wie bei uns, wird alles Geld des Verstorbenen zuerst einmal gesperrt. Ab sofort muss die Witwe alle laufenden Rechnungen selbst bezahlen.
Ich wühle mich zurzeit durch Anträge, fülle seitenlange Formulare aus, suche Belege, ich kopiere, ich drucke, und dies oft stundenlang. So verbrachte ich meine letzten sechs Wochenenden. Mein Mann hat in drei verschiedenen Ländern gearbeitet. Alle Sozialversicherungen und Kassen wollen informiert werden, verlangen seither immer wieder andere Schriftstücke und senden mir unterschiedliche Formulare. Online geht praktisch gar nichts.
Das längste und komplizierteste Formular hat absurderweise die AHV. Genau das müsste aber das einfachste sein, da es die meisten Menschen betrifft. Spätestens nach dem zehnten Antwortfeld fragte ich mich, wie dies Witwen ausfüllen sollen, die vielleicht keine administrative Erfahrung haben oder allenfalls fremdsprachig sind? Wie sollen sie das bewältigen, wenn sie kein gut eingerichtetes Home Office mit einem Drucker haben?
Wie soll man es überhaupt bewältigen, ein Dutzend Mal den Todesschein der Lebensliebe zu kopieren? Seinen Todesschein zu falten und in ein Couvert zu stecken? Einmal, zweimal, zwölfmal. Ich weiss es nicht. Manchmal lege ich stumpf und roboterhaft immer wieder neues Papier nach, schiebe neue Dokumente rein und raus, Klappe auf, Klappe zu, manchmal schüttelt es mich und ich weine die Druckerschwärze nass. Und dann mache ich alles nochmals, gefangen in einer grausamen Endlosschleife.
Oft akzeptieren die Sozialversicherungen nur das Originaldokument. Ein solches kostet 81 Franken. Sonstige Dokumente wie Steuererklärungen je 30 Franken. Genauso wie eine zertifizierte Kopie eines Originals – ja, auch das ist zuweilen gefragt.
Mir ist schleierhaft, warum dieser Prozess derart bürokratisch und papieren sein muss. Witwen mit Kindern haben klar geregelt einen Anspruch auf eine Rente aus der 1. Säule. Auf mindestens 980 Franken oder höchstens 1’960 Franken im Monat. Den Höchstbetrag gibt es allerdings nur, falls der Ehemann lückenlos und immer den möglichen Maximalbetrag der AHV-Beiträge eingezahlt hat. Und das ist eher selten. Viele Menschen haben wegen Ausbildung, Job-Pausen oder Auslandsaufenthalten Lücken. Unter Umständen hat man auch Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente aus der 2. Säule, da ist das jeweilige Pensionskassenreglement entscheidend. Aber bevor der Antrag der AHV nicht durch ist, tut sich hier erst einmal sowieso gar nichts.
Beantragungsmüde
Bei Patchwork-Situationen reicht übrigens das «Familienbüchlein», amtlich besser bekannt als Familienausweis, nicht aus. Den gibt es bei der Gemeinde. Aber Nein, gefragt ist der sogenannte «Ausweis über den registrierten Familienstand». Diesen gilt es wiederum nicht in der Gemeinde zu beantragen, sondern am eigenen Bürgerort. In diesem Ausweis sind dann auch die Bonuskinder aufgeführt.
Manchmal sitze ich auch einfach da vor dem aufgeräumten Aktenschrank meines Mannes, fassungslos und beantragungsmüde. Ich betrachte dieses Leben, das hier in Ordnern abgelegt ist, fein säuberlich mit System. Wie dieses Leben in den letzten Wochen entmenschlicht und auf Formulare reduziert wurde. Mein Mann hat mir sein Leben übersichtlich hinterlassen. Und ich bin ihm unendlich dankbar – einmal mehr. Ich überlege mir gleichzeitig, was für ein Chaos ich ihm in meinem Schrank hinterlassen hätte. Und trotz all seiner Umsicht und Vorsorge fehlt mir immer wieder dieses eine Dokument oder dann das andere.
Tortur nach dem Tod
Ich korrespondiere seit sechs Wochen mit den Behörden und kann wohl behaupten, dass ich damit relativ geübt und speditiv bin. 2024 habe ich bereits einen dicken, schweren Ordner mit ellenlangen Anträgen und Gesuchen auf Hilfsmittel, IV und Hilflosenentschädigung gefüllt – eine Tortur für uns alle. Menschen zu unterstellen, sie würden IV aus Spass beantragen, was für ein Hohn.
Es ist für mich unerträglich, mir vorzustellen, wie es Witwen ergehen mag, die weniger Erfahrung mit bürokratischen Prozessen haben, die vielleicht administrativ weniger kompetent sind und sprachlich straucheln. Obwohl ich grundsätzlich davon ausgehe, dass ich relativ effizient bin, habe auch ich bisher keinen einzigen Bescheid und schon gar keine Rente erhalten. Weder aus der Schweiz noch aus dem Ausland. Weder von der AHV noch BVG. Weder für die Kinder noch für mich.
258 Millionen Witwen leben auf der Welt und 115 Millionen davon in Armut. Heute, am 23. Juni, ruft der internationale Witwentag dazu auf, die «Armut und Ungerechtigkeit, mit der Millionen von Witwen und ihre Angehörigen in vielen Ländern konfrontiert sind» zu bekämpfen. Witwen gehörten auch im Westen historisch zu den schwächsten, verwundbarsten und ärmsten Menschen. Erst die Sozialversicherungssysteme brachten ihnen eine gewisse Absicherung, in der Schweiz war das in der 1. Säule 1948 und in der 2. Säule erst in den 1970ern.
Während die Renten die eine Sache sind, ist das Erbe die andere und oft noch die viel kompliziertere.
Witwenprobleme sind Frauenprobleme
Die Willensvollstreckerin sagt, dass es wohl mindestens eineinhalb Jahre dauern wird, bis alles abgewickelt ist. Auch die Steuererklärungen meines Mannes müssen pro rata zuerst abgeschlossen werden. Ein schwieriges Unterfangen, hier alle Dokumente zusammenzutragen und überhaupt zu erhalten. Das heisst, dass ich den Erbschein vielleicht in ein oder zwei Jahren erhalte. Erst mit dem Erbschein hat eine Witwe wieder Zugriff auf die Bankkonten.
Wovon soll also die Durchschnitts-Witwe und -Mutter in dieser ganzen Zeit leben? Die meisten Mütter arbeiten reduziert oder nur unbezahlt, da sie sich um die Kinder kümmern. Ich bin eine finanziell privilegierte Witwe, da ich bezahlt arbeite, immer gearbeitet habe und über eigenständige Reserven verfüge. Aber wenn sogar privilegierte Witwen an ihre Grenzen geraten, wie ergeht es den weniger begüterten Witwen?
Den meisten dieser Witwen dürfte nicht bekannt sein, dass sie ein Recht auf provisorische Auszahlungen haben. Über dieses Recht müssen die Ausgleichskassen erst 30 Tage nach Einreichen des Antrags informieren. Es war mir selbst auf dem Portal der AHV auch nicht möglich, ein Formular für einen solchen «Rentenvorschuss» zu finden. In Deutschland können Witwen dies bei der Deutschen Post AG sofort nach dem Tod beantragen. Ich überzeugt, dass das für viele Schweizer Witwen mit Kindern schnell prekär wird und die Vorschüsse nicht sofort ankommen. Der Gang zum Sozialamt dürfte ihnen wohl nicht erspart bleiben. Es erklärt sich von selbst, dass dazu keine Studien vorliegen.
Die Stiftung Aurora – die mir viele andere Betroffene wärmstens empfohlen haben – bietet wertvolle Informationen und Angebote für Verwitwete und ihre minderjährigen Kinder. Zusätzliche wirtschaftliche Hilfe aber gibt es nur bei der Pro Senectute und auch erst, nachdem die Ansprüche auf Hinterlassenenrente und kantonale Ergänzungsleistungen abgeklärt wurden. Und das dauert wie beschrieben eine gefühlte Ewigkeit.
Witwenprobleme sind Frauenprobleme. Und Frauenprobleme werden oft übersehen und übergangen. In der Forschung, in der Geschichte und in den Medien. Witwenprobleme sind unsichtbar. Auch Bücher dazu findet man nur wenige. Cornelia Kazis' Werk «Weiterleben, weitergehen, weiterlieben. Wegweisendes für Witwen» ist eine rare Ausnahme. Die Journalistin war selbst betroffen, fand keine Informationen und sah sich gezwungen, sie selbst niederzuschreiben.
Überstehen Witwen emotional und finanziell die ersten Monate, sind alle immerhin minimal durch die Witwenrente aus der AHV abgesichert, aber der Bundesrat hat Kürzungen beschlossen. Weit reichen die 980 Franken heute ohnehin schon nicht.
Genau deswegen ist der heutige internationale Witwentag so wichtig. Weil er Witwenprobleme sichtbar macht. Und das Mindeste, was wir an diesem Tag tun können, ist Betroffenen zu helfen, indem man seine Erfahrungen teilt und das Tabu bricht.