Was ist das eigentlich, die Wirtschaft? Insbesondere für Frauen ist diese Frage sehr relevant. In der allgemeinen Vorstellung gehört zur «Wirtschaft» meist nur Arbeit, die bezahlt ist. Und wenn wir davon sprechen, dass dieses oder jenes «der Wirtschaft» schaden könnte, dann sind damit häufig nur gewisse Arbeitsbereiche gemeint: der Bau, die industrielle Produktion, Banken, Versicherungen, das Immobilienwesen – Branchen also, in denen Männer in der Überzahl sind. Doch das ist nicht einmal die halbe Wahrheit: Erstens wird in der Schweiz mehr unbezahlte Arbeit geleistet, als bezahlte. Und zweitens gibt es vor allem für die Beschäftigung der Frauen gewichtige Branchen, die gemeinhin eben nicht zur Wirtschaft gezählt werden: wie der Gesundheitssektor oder der Bildungsbereich. All diese Arbeit ist jedoch, unabhängig davon, ob sie bezahlt ist oder nicht, gesellschaftlich notwendige Arbeit.
Alle Menschen müssen geboren, ernährt, und grossgezogen werden und brauchen auch als Erwachsene saubere Kleidung, Nahrung und Pflege. Und all diese Arbeit ist anders als jene Arbeit, die im Allgemeinen unter «Wirtschaft» verstanden wird. Während beispielsweise Autos immer schneller produziert werden können, kann nicht immer schneller gepflegt und Kinder können nicht immer schneller ins Bett gebracht werden. Die Ökonomin Mascha Madörin hat die eigene ökonomische Logik dieser Arbeit als Pionierin auf diesem Gebiet in ihre Theorie aufgenommen. In der Konsequenz fasst sie alle Arbeit, die dieser anderen – dieser personenbezogenen und haushaltsnahen: dieser zeitintensiven – Logik folgt, im Sektor der Sorge- und Versorgungsarbeit zusammen. Dieser vierte Wirtschaftssektor umfasst beispielsweise die Gastronomie oder den Detailhandel, das Bildungs-, Sozial- oder das Gesundheitswesen, aber auch die ganze unbezahlte Haus- und Familienarbeit.
Wenn wir nun also alle Arbeit in den Blick nehmen, dann stellt sich Wirtschaft völlig anders dar, als wir es gewohnt sind. In der Schweiz sind nämlich 70 Prozent aller Arbeit Sorge- und Versorgungsarbeit. Was also normalerweise als Wirtschaft bezeichnet wird, ist eigentlich vielmehr: der kleine Rest der Wirtschaft.
Was es uns kostet
100 Milliarden Franken. So gross ist die Einkommenslücke zwischen Frauen und Männern in der Schweiz – und zwar jedes Jahr. Mit diesem Geld könnte jeder Frau in diesem Land von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod einen monatlichen Betrag im Umfang von einer durchschnittlichen AHV-Rente ausbezahlt werden. Da Frauen und Männer in der Schweiz ungefähr gleich viele Stunden (unbezahlt und bezahlt zusammengezählt) arbeiten, können wir mit Gewissheit feststellen: Es gibt kein faules Geschlecht, ein armes hingegen schon. Denn Frauen leisten über 60 Prozent der Sorge- und Versorgungsarbeit – bezahlt, meist schlecht bezahlt und unbezahlt. Anders formuliert: Die Gründe für diese massive Einkommenslücke sind die ungleiche Verteilung der unbezahlten Arbeit einerseits, und die ungleiche Bezahlung von Erwerbsarbeit andererseits. Ein Umstand, der sich nach der Erwerbsphase auch in der Rente widerspiegelt: Laut einer Studie des Bundesamtes für Sozialversicherungen aus dem Jahr 2016 sind die Renten der Frauen im Durchschnitt 37 Prozent tiefer als die der Männer. Das entspricht einer Differenz von durchschnittlich fast 20 000 Franken pro Jahr und Rentnerin.
Geld ist knapp, Zeit auch
Insbesondere Familien sind von zeitlichen und finanziellen Mehrbelastungen betroffen. Mütter und Väter arbeiten je fast 70 Stunden pro Woche (bezahlte und unbezahlte Arbeit zusammengenommen). Mütter zu zwei Dritteln unbezahlt, Väter zum gleichen Anteil bezahlt. Zum Vergleich: Menschen ohne Kinder arbeiten rund 50 Stunden pro Woche. Also immer noch viel. Zusätzlich belastet sind aber nicht nur Haushalte mit Kindern, sondern auch solche mit pflegebedürftigen Angehörigen: Zur Haus- und Erwerbsarbeit kommen wöchentlich durchschnittlich fast 13 Stunden für die direkte Pflege von Angehörigen hinzu, die zusätzliche Hausarbeit nicht eingerechnet.
Haushalte mit Kindern und pflegebedürftigen Angehörigen sind also zeitlich und finanziell belastet: weil sie erstens gesellschaftlich notwendige Arbeit leisten und weil zweitens aus diesem Grund ihre Erwerbsmöglichkeiten zumindest zeitweise stark eingeschränkt sind. Die Organisation der Sorge- und Versorgungsarbeit für abhängige Personen ist entsprechend nicht nur eine Frage der Verteilung zwischen den Geschlechtern; sie ist auch eine gesamtgesellschaftliche und sozialpolitische Frage.
Wer Zeit für unbezahlte oder bezahlte Sorge- und Versorgungsarbeit einsetzt, soll nicht ökonomisch dafür bestraft werden. Massnahmen zur Entlastung von Haushalten und für die ökonomische Gleichstellung der Geschlechter müssen entsprechend in zwei Währungen aufgehen: Zeit und Geld.
Das Problem der Schweizer Gleichstellungspolitik: Sie löst das Problem nicht.
Frauen sollen ihre Erwerbspensen erhöhen, Männer die ihrigen reduzieren: Problem gelöst? Ganz so einfach ist es leider nicht – und zwar aus unterschiedlichen Gründen. Erstens erwerbsarbeiten Frauen in der Schweiz im europäischen Vergleich bereits enorm viel. Nämlich fast gleich viele Stunden, wie beispielsweise Männer in Dänemark und 10 Stunden mehr als Frauen in Frankreich oder Deutschland. Nur in Schweden wird überhaupt so viel Erwerbsarbeit geleistet wie in der Schweiz. Dank der schwedischen Gleichstellungspolitik sind dort zwar die Einkommen wesentlich symmetrischer zwischen den Geschlechtern verteilt, doch die Einkommenslücke beträgt immer noch 23.5 Prozent. Worin die Ursache dafür liegt, müsste dringend genauer analysiert werden.
Was wir dessen ungeachtet in Bezug auf die Schweizer Gleichstellungspolitik feststellen können: Die angestrebte Umverteilung von Arbeit führt nicht zu einer zeitlichen und finanziellen Entlastung von Haushalten mit Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen, sondern sie schiebt die viele Arbeit zwischen den Haushaltsmitgliedern hin und her. Das mag zwar etwas gerechter erscheinen, löst aber das Problem nicht. Und was wir heute nach ungefähr 40 Jahren ebendieser Gleichstellungspolitik leider auch feststellen müssen. Diese angestrebte Umverteilung hat so nicht stattgefunden:
Wenn es zu einer nennenswerten Umverteilung von Arbeit gekommen ist, dann zwischen Frauen. So betreuen schlecht bezahlte Kinderbetreuerinnen unsere Kinder, schlecht bezahlte Pflegerinnen pflegen unsere betagten Angehörigen und schlecht bezahlte Putzkräfte putzen unsere Wohnungen.
Eine Verschiebung also von zuvor unbezahlter Arbeit hin zu meist schlecht bezahlter Arbeit. Das kann doch nun wirklich nicht als Fortschritt in eine gerechtere Zukunft bezeichnet werden.
Dass aus der konventionellen Gleichstellungs-Perspektive die aktuelle Organisation von Arbeit nicht in Frage gestellt wird, kommt noch erschwerend hinzu. Sie bleibt mit ihrem Fokus auf der Erwerbsarbeit und setzt die männliche Erwerbsbiographie als Norm. Eine Norm, die möglichst alle erfüllen sollen. Das heisst: Frauen sollen sich in einer von Männern gemachten Welt den männlichen Lebensläufen anpassen, wenn sie gleichgestellt sein wollen. Dass mit dieser Welt vielleicht etwas nicht stimmen könnte, und ob wir diese Welt überhaupt wollen, wird kaum zur Debatte gestellt.
Nicht die Frauen, das System anpassen
Bleiben wir aber mal beim Gedanken, die Welt, wie sie ist, zumindest ein bisschen gerechter zu machen: Die Schweiz gehört bezüglich öffentlichen Sorge-Infrastrukturen und Entlastungsmassnahmen für Familien zu den Schlusslichtern Europas. Wenn wir uns mit Massnahmen zur Entlastung von Familien und Haushalten befassen, befinden wir uns also weder in besonders revolutionären, noch in utopischen Gefilden: Wir sprechen hier schlicht über eine Angleichung an den europäischen Standard. Das Gute daran: Wir müssen das Rad nicht selbst erfinden – zumindest vorläufig nicht. Folgende Beispiele könnten Anknüpfungspunkte für eine geschlechtergerechtere Organisation von Arbeit sein:
- Reduktion der Normalarbeitszeit: Eine Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit wie sie zum Beispiel Frankreich eingeführt hat, könnte einen wertvollen Beitrag zu einer umfangreichen Massnahmenpalette für die ökonomische Gleichstellung der Geschlechter leisten. Durch die Verminderung des Gesamtarbeitsvolumens würde sie insbesondere Haushalte mit Betreuungspflichten entlasten.
- Ausbau und staatliche Finanzierung der Kinderbetreuung: Ausserhäusliche Betreuungsangebote für Kinder sind nur dann eine wirkliche Entlastung für Familien, wenn sie finanziell für alle erschwinglich und für alle gleichermassen zugänglich sind. In keinem anderen europäischen Land ist der privat zu leistende Kostenanteil für familienergänzende Kinderbetreuung so hoch wie in der Schweiz. Während sich die Elternbeiträge in anderen Ländern zwischen 15 Prozent und maximal 35 Prozent der Vollkosten bewegen, bezahlen Eltern in der Schweiz zwischen 25 bis zu 100 Prozent selber. Je nach Wohnort. Ansatzpunkt für politische Massnahmen könnte also sein, die Elternbeiträge abzuschaffen, oder sie zumindest in der Höhe zu beschränken.
- Angemessene Elternzeit: 14 Wochen Mutterschaftsurlaub und zwei Wochen Vaterschaftsurlaub sind im europäischen Vergleich absolut lächerlich. Norwegen kennt eine Elternzeit von insgesamt 49 Wochen (das ist etwa 1 Jahr) mit Anspruch auf 100% des Gehalts oder von Wahlweise 59 Wochen (das sind etwa 14 Monate) bei 80% des Gehalts. Und im Gleichstellungs-Musterland Schweden gibt es eine Elternzeit von insgesamt 16 Monaten. Die ersten 13 Monate können bei 80 Prozent des Gehalts bezogen werden, wobei es für das Elterngeld eine Minimalgrenze gibt, um für geringe Einkommen einen Ausgleich zu schaffen. Für die verbleibenden drei Monate wird eine Pauschale vergütet. Darüber hinaus wird der Anspruch auf Elternzeit bei Zwillingen automatisch erhöht. An solchen Massstäben sollte sich die Schweiz orientieren.
Um das Ganze nochmals an die aktuelle Realität hierzulande zurückzubinden: Nur 18 Prozent der Mütter kehren nach 14 Wochen an den Arbeitsplatz zurück. Die allermeisten verlängern ihren Erwerbsunterbruch also auf eigene Kosten. Und damit steht die Frage im Zentrum: Wer sich wieviel leisten kann, oder eben auch nicht. Eine Elternzeit von beispielsweise einem Jahr würde dem entgegenwirken und wäre eine finanzielle und zeitliche Entlastung für junge Familien – je nach Ausgestaltung auch über den Zeitraum des Erwerbsunterbruchs hinaus. - Ausbau der Langzeitpflege: Die Doppelbelastung von Frauen spielt sich nicht allein rund um die Familiengründung ab. Es sind Menschen im Alter ab 55 Jahren, die den Grossteil der Freiwilligenarbeit und darin auch Betreuungsarbeit für Familienangehörige leisten. Dies also oft zu einem Zeitpunkt, da die eigenen Kinder noch nicht vollständig selbständig sind, die Eltern oder Schwiegereltern jedoch bereits pflegebedürftig werden. Analog zu Betreuungsangeboten für Kinder, bräuchte es auch hier eine gut ausgebaute öffentliche Infrastruktur und eine finanzielle Anerkennung von informell geleisteter Pflege. Denn aktuell tragen in der Schweiz vor allem die Betroffenen und ihre Angehörigen – insbesondere die Frauen – die Kosten und die zeitliche Belastung.
- Ausbau der AHV: Ein Sozialversicherungssystem, das die unbezahlte Arbeit von Frauen anerkennt und ernst nimmt, darf in der Höhe der jeweiligen Leistung nicht an Erwerbspensum und Lohnhöhe gekoppelt sein, wie das heute der Fall ist. Mit der AHV existiert in der Schweiz bereits eine Sozialversicherung, die über Erziehungs- und Betreuungsgutschriften zumindest einen Teil der unbezahlt geleisteten Arbeit anerkennt und damit (zusammen mit dem Ehegatten-Splitting) zu einer wesentlichen Verbesserung der Frauenrenten beigetragen hat. Aufgrund der Pensionskassen als wichtiger Teil der Altersvorsorge, klaffen in der Altersvorsorge dennoch riesige Lücken zwischen den Geschlechtern. Zur Erinnerung: Die Renten der Frauen sind im Durchschnitt 37 Prozent tiefer als die der Männer. Das entspricht einer Differenz von durchschnittlich fast 20 000 Franken pro Jahr und Rentnerin.
Dennoch zeigt dieses Beispiel, dass bereits heute Formen der Entschädigung von unbezahlter Arbeit implementiert sind – wenn auch im ganz Kleinen. Um die ökonomische und sozialversicherungsrechtliche Situation der Frauen zu verbessern, könnte hier angeknüpft werden: - Erziehungsgutschriften und Betreuungsgutschriften erhöhen und ausweiten: auf Grosseltern und andere verwandte und nicht-verwandte Betreuungspersonen.
- Anrechnungsdauer der Gutschriften erweitern: über den Eintritt ins Rentenalter hinaus, wodurch die laufende Rente erhöht werden könnte.
Dies sind einige mögliche politische Handlungsmöglichkeiten, die punktuell für Entlastung sorgen. Selbstverständlich ist keines dieser Instrumente für sich genommen die Lösung. Nur eine Kombination von unterschiedlichen Entlastungsmechanismen kann der Komplexität der Sorgearbeit gerecht werden – sowohl für jene, die auf diese Arbeit angewiesen sind, wie auch für jene, die sie leisten. Wobei wir unbedingt auch über die Löhne und Arbeitsbedingungen von Care-Arbeiter*innen sprechen müssen.
Drängende Fragen der Zukunft
Wir brauchen dringend einen Aushandlungsprozess darüber, wie wir als Gesellschaft leben wollen. Und darüber, was dafür nötig ist. Sorge- und Versorgungsarbeit macht den Grossteil aller geleisteten Arbeit aus. Sie ist zentral für unseren Lebensstandard und bisweilen sogar für unser Überleben. Wie können wir also gewährleisten, dass alle, die auf diese Arbeit angewiesen sind, Zugang zu ihr erhalten? Und wie können wir dafür sorgen, dass genügend Zeit und Geld für diese Arbeit zur Verfügung steht? Eine zentrale Zukunftsfrage ist also: Wie können wir als Gesellschaft diese Arbeit organisieren und finanzieren, ohne uns auf die zeitliche und finanzielle Ausbeutung von Frauen und anderen unterbezahlten Arbeitskräften zu verlassen, wie es heute der Fall ist?
Mirjam Aggeler und Anja Peter leiten gemeinsam die Geschäftsstelle von Economiefeministe, der Plattform für feministische Ökonomie, auf der ökonomisches Wissen aus feministischer Perspektive gesammelt, systematisiert, geschaffen, vermittelt und diskutiert wird.