Es ist kein Zufall, dass es zwei Frauen waren, die den Begriff Financial Literacy (Finanzbildung) auf die Forschungslandkarte setzten. Durch ihre früheren Arbeiten im Bereich Ersparnisbildung und Renten wussten Olivia Mitchell, Professorin an der Wharton School of Business und Annamaria Lusardi, Professorin an der George Washington University School of Business, dass sich Frauen mit Investieren und Sparen schwertaten und weniger gut informiert waren. Nun wollten sie endlich verstehen, warum dies so ist.
Was sind denn das für Forscherinnen?
Zuerst mussten Olivia und Annamaria aber eine andere Frage beantworten: Wie kann Financial Literacy überhaupt gemessen werden? Denn dabei geht es nicht um buchhalterische Kenntnisse und Fähigkeiten, sondern um das Wissen über langfristigere Investitions- und Vorsorgeentscheidungen. Und da stehen Begriffe wie Zinsen, Inflation und Risiko beziehungsweise Diversifikation im Vordergrund.
Über mehrere Jahre experimentierten Olivia und Annamaria mit möglichen Wissensfragen. Am Schluss blieben drei Basisfragen übrig – the Big 3: Eine Frage zum Zins (ja, der Zins wird jedes Jahr ausbezahlt und zum Vermögen gerechnet), eine Frage zur Kaufkraft bei Inflation (wenn die Inflation höher ist als die Zinsen, so reichen die Ersparnisse zu weniger Einkäufen), eine dritte zur Diversifikation (es ist gescheiter, das Vermögen in verschiedene Wertpapiere zu investieren als nur in eine). Die Fragen sind auf den ersten Blick dermassen einfach, dass meine Studierenden bei der ersten Konfrontation damit fast revoltierten (wie banal!, hat nichts mit Finanzwissen zu tun, was sind denn das für «Forscherinnen» (!))
Selbst Akademiker hadern mit Finanzwissen
Die Resultate der weltweit angelegten Studien zeigten allerdings, dass es auf die erschreckend einfachen Fragen erschreckend viele falsche Antworten gab. In kaum einem Land konnte mehr als die Hälfte der Befragten alle drei Fragen richtig beantworten. Es gibt grosse Unterschiede zwischen den Ländern, aber auch viele Gemeinsamkeiten. Junge und Ältere schneiden schlechter ab als die 40- bis 60-Jährigen. Je höher die Bildung, desto grösser das Finanzwissen. Doch selbst unter Uni-Absolvent:innen können kaum zwei Drittel der Befragten alle Fragen richtig beantworten.
Sehr deprimierend ist, dass die Frauen in jedem Land und zu jedem Zeitpunkt viel schlechter abschneiden als die Männer. Und zwar selbst dann, wenn Gleichaltrige und Gleichgebildete miteinander verglichen werden. Konkret: Das Finanzwissen einer 50-jährigen Lehrerin ist markant tiefer als das Finanzwissen eines 50-jährigen Lehrers. Der Gender Gap in Financial Literacy kann somit kaum die Folge mangelnder Bildung sein.
Arm und weniger frech
Olivia und Annamaria wollten es genauer wissen. In den letzten 20 Jahren ist durch ihre Forschung mit zahlreichen Co-Autor:innen auf der ganzen Welt eine breite and faszinierende Literatur zu den Determinanten und Unterschieden in Financial Literacy entstanden. Etwas plakativ lässt sich der Gender Gap in Financial Literacy wie folgt zusammenfassen: Die Frauen sind nicht dümmer in Finanzfragen; sie sind einfach ärmer und weniger frech.
Für Menschen mit knapperen finanziellen Mitteln lohnen sich die Investitionen in Finanzwissen weniger (oder gar nicht). Es braucht nämlich einen gewissen Aufwand, um sich das notwendige Wissen anzueignen. Basierend auf einem stinknormalen Kosten-Nutzen-Kalkül kann der Verzicht auf finanzielle Bildung durchaus rational sein (was im Übrigen für Frauen und Männer gilt).
Und zudem: Übung macht die Meisterin. Wer wenig Gelegenheit hat, Velo zu fahren, wird nie richtig Velofahren lernen. Das gleiche gilt beim Investieren: Je mehr Erfahrung desto bessere Resultate. Wer kaum Vermögen hat, dem fehlt so – neben dem fehlenden Anreiz, sich die Kenntnisse anzueignen – auch die Übung in der Finanzplanung.
Dass Finanzwissen tatsächlich «endogen» ist, also nicht einfach gegeben, sondern in Abhängigkeit von den verfügbaren finanziellen Mitteln erworben wird, zeigen Olivia und Annamaria zusammen mit Pierre-Carl Michaud in einer bahnbrechenden Arbeit in der hoch angesehenen Zeitschrift Journal of Political Economy. Gemäss dieser Studie lassen sich durch Unterschiede im (rational erworbenen) Finanzwissen 30 bis 40 Prozent der Ungleichheit im Vorsorgevermögen erklären. In anderen Worten: Die Lücke in Financial Literacy und die Vermögenslücke verstärken sich gegenseitig, was sich gerade für die Frauen ungünstig auswirkt.
Mangelndes Selbstbewusstsein kommt Frauen teuer zu stehen
Doch es gibt noch einen weiteren Grund für die eklatante Wissenslücke: Die Frauen trauen sich viel weniger zu als die Männer. Bei genauer Sichtung der Antworten zeigt sich nämlich, dass Frauen sehr viel häufiger als Männer mit «ich weiss nicht», oder einfach «keine Antwort» reagierten. Und dies selbst dann, wenn sie die richtige Antwort eigentlich kennen. Das ist doppelt traurig, denn raten kostet nichts – im Gegenteil. Bei der dritten (Diversifikations-)Frage ist die Wahrscheinlichkeit selbst mit totalem Unwissen richtig zu tippen bei 50 Prozent, bei den beiden anderen immerhin bei einem Drittel. Die Übervorsicht und das mangelnde Vertrauen kommen den Frauen teuer zu stehen. Zwischen einem Drittel und der Hälfte des Gender Gaps in Financial Literacy kann dadurch erklärt werden.
So ernüchternd die wissenschaftlichen Resultate sind, sie liefern mindestens Ansatzpunkte zum Handeln.
Erstens müssen wir dafür sorgen, dass die Frauen die Mittel für eine adäquate Vorsorge aufbauen können. Die meisten Hebel sind wohlbekannt – Berufswahl, Lohngleichheit, bessere Abdeckung in der Vorsorge bei Teilzeitarbeit. Diskutiert werden könnte ein Vorsorgeausgleich zwischen Eltern bis das jüngste Kind 18 Jahre alt ist – unabhängig davon, ob die Ehe (noch) besteht.
Zweitens gehört die Finanzbildung in den obligatorischen Schulstoff. Denn das mangelnde Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zeigt sich schon sehr früh. So meinte mein damals etwa 13-jähriger älterer Sohn einmal beiläufig beim Znacht: «Wir haben einige Mädchen in unserer Klasse, die sind richtig gut in Mathe. Aber sie trauen sich nicht, dies zu zeigen.» Eine frühe und qualitativ hochstehende Finanzbildung ist nicht nur direkt anwendbar, sie stärkt auch das Vertrauen der jungen Frauen in ihre eigenen Fähigkeiten.
Alle in diesem Beitrag zitierte wissenschaftliche Literatur ist empirisch, sie basiert somit auf belastbaren objektiven Daten und verwendet die neuesten statistischen/ökonometrischen Methoden. Anders ausgedrückt: Die Forschung von Olivia und Annamaria ist zu 100% Mainstream. Dennoch zeigt sich einmal mehr, weshalb Diversität in der Forschung so wichtig ist. Die Frauen stellen andere Fragen, die sie dann mit denselben etablierten Methoden und Daten zu beantworten suchen.
The BIG 3 Fragen:
Frage 1
Angenommen, Sie haben 100 Franken auf dem Konto, bei einem Zinssatz von 2%. Wie hoch ist der Kontostand nach fünf Jahren?
- mehr als 102 Franken?
- genau 102 Franken?
- weniger als 102 Franken?
- weiss ich nicht
Frage 2
Der Zinssatz auf dem Konto beträgt 1%, und die Inflationsrate liegt bei 2%. Können Sie, wenn Sie wollen, mit dem auf dem Konto liegenden Geld nach einem Jahr ...
- ... mehr kaufen als jetzt?
- ... genau so viel kaufen wie jetzt?
- ... weniger kaufen als jetzt?
- ... weiss ich nicht
Frage 3
Der Kauf einer einzelnen Aktie ist in der Regel weniger riskant als der Kauf eines Aktienfondsanteils. Diese Aussage ist ...
- ... richtig
- ... falsch
- ... weiss ich nicht
Lösungen:
Frage 1: 1) mehr als 102
Frage 2: 3) weniger kaufen als jetzt
Frage 3: 2) falsch
Wer gerne noch mehr wissen will:
- Interviews mit Annamaria Lusardi. Finanzielle Analphabeten – Schweizer Monat; «Sprechen Sie mit Kindern möglichst oft über Geld» | Swiss Life
- Übersicht über den Stand der Forschung zum Gender Gap in Financial Literacy: How Financially Literate Are Women? An Overview and New Insights - Bucher‐Koenen - 2017 - Journal of Consumer Affairs - Wiley Online Library