Erinnerst du dich noch an Occupy Wall Street? Die Bewegung, die nach der Finanzkrise im Jahr 2008 plötzlich in jeder westlichen Grossstadt zu finden war? Die gegen die Macht der Banken demonstrierte und eine «Wirtschaft für die Menschen und von den Menschen» forderte?
Bei der Recherche für den Podcast «Das entfesselte Geld», den Franziska Engelhardt und ich mit unserer Storytelling-Agentur Elephant Stories für das Bernische Historische Museum produziert haben, tauchte diese Bewegung auf einmal wieder auf. Und zwar dort, wo wir sie am wenigsten erwartet hatten: In der Episode über Kryptowährungen und Blockchain. Das Phänomen also, das in den letzten Jahren tausende schwerreich gemacht hat und gleichzeitig diverse Skandalen produzierte. Jüngstes Beispiel ist der Absturz der Kryptobörse FTX.
Cameron und Tyler Winklevoss, Michael Saylor, Matthew Roszak, Tim Draper, Sam Bankman-Fried, Brian Armstrong, Fred Ehrsam, Carl Runefelt: Die Liste der ultrareichen Krypto-Profiteure ist lang – aber nicht besonders divers. Wir wollten darum wissen: Warum haben fast ausschliesslich Männer von dieser digitalen Revolution profitiert? Um das herauszufinden, haben wir uns zunächst genauer mit der Geschichte der Kryptowährungen beschäftigt.
Die grosse Hoffnung
Ela Kagel ist Digitalstrategin aus Berlin. Im Frühjahr diskutierte sie in einer Gesprächsreihe des Bernischen Historischen Museums über die Kryptowelt. Dabei beschrieb sie anschaulich, was die «99 Percent», die nach der Finanzkrise auf die Strasse gingen, mit dem Krypto-Hype zu tun haben. Kagel ist überzeugt: Dass das «Misstrauen gegenüber dem Staat und seinen zentralen Institutionen sowie das Misstrauen gegenüber dem zentralen Bankensystem» Anfang 2009 ein Phantom namens Satoshi dazu brachte, der Welt eine neue Idee für den Zahlungsverkehr vorzuschlagen: den Bitcoin.
Was damals revolutionär klang, ist heute Allgemeinwissen. Zumindest fast. Für Franziska und mich war die Auseinandersetzung mit der Blockchain, ihren Funktionen und Limitationen bei der Podcast-Produktion trotzdem eine Herausforderung. Falls es dir auch so geht, diese Definition von Ela Kagel fanden wir hilfreich: «Das Schürfen von Cryptocoins funktioniert über eine weltweit vernetzte Blockchain-Infrastruktur von Rechnern, die Transaktionen anonym prüft und damit in die digitale Infrastruktur für alle sichtbar einschreibt. Das digitale Kollektiv agiert hier autonom und dezentral, ohne Intermediäre, die, wie noch in der Sharing Economy, einen Grossteil der Gewinne abzweigen.» Die gesamte Definition von Ela Kagel lässt sich hier nachlesen.
Vereinfacht gesagt heisst das: Im Gegensatz zu den bislang bekannten Währungen funktioniert die neue Währung dezentral also über viele einzelne Punkte, transparent und eigenständig. Sie setzt auf Kollektive und kleinere Gruppen statt auf alte Machtstrukturen. Zentralbanken und Staaten, die in der Finanzkrise als Wurzel allen Übels angesehen wurden, werden ausgeschaltet und umgangen. Stattdessen setzt die neue Währung auf Technik. Auf die Rechenleistung der Computer, die überall auf dem Globus von Privatpersonen genutzt werden.
Der langsame Aufstieg
Doch bis diese neue Kryptowelt so richtig zum Leben erwachte, verging einige Zeit. Zu Beginn kostete ein Bitcoin 0,01 Dollar – und selbst das war vielen zu teuer. Geld im Internet auszugeben, das galt zu dieser Zeit als höchst unsichere Sache. Man blieb lieber auf Abstand. Erst 2010 wurde Bitcoin das erste Mal für eine echte Transaktion eingesetzt: Zwei Pizzen wechselten für 10’000 Bitcoins den Besitzer. Heute wären das etwa 150 Millionen Schweizer Franken.
Der Aufstieg der Währung verlief langsam. Aber je länger der Bitcoin auf dem Markt war, desto mehr User wollten ihn dann doch einmal ausprobieren. Besonders interessant war Krypto für viele vor allem dann, wenn sie bei einem Kauf anonym bleiben wollten. Nach und nach erkannten aber immer mehr Menschen, dass Bitcoins und Krypto tatsächlich eine interessante Alternative zu den herkömmlichen Zahlungsmitteln sein können. Immer mehr digitale Währungen entstanden. Ihr Wert stieg rapide. Zu einem richtigen Zahlungsmittel sind die Krypto-Coins trotzdem nie geworden, sagt Ela Kagel. «Wir haben eher die Situation, dass die Leute, die Bitcoin besitzen, auch daran festhalten und nicht unbedingt so scharf darauf sind, Bitcoins auszugeben.» Man könnte auch sagen: Bitcoin und andere digitale Währungen sind bis heute mehr Wertanlage als Geld. Und diese Wertanlagen waren in den letzten Jahren so profitabel, dass sie viele Menschen sehr, sehr reich gemacht haben.
Die Chefs der neuen Kryptowelt – und wer alles nicht dabei ist
Doch anders als es sich die Demonstrant:innen von Occupy Wallstreet vor rund vierzehn Jahren vermutlich gewünscht hätten, profitieren von dieser Wertanlage nicht die 99 Prozent der Menschheit, die in den grossen Banken dieser Welt zu wenig vorkommen. Im Gegenteil: Die Krypto-Millionäre sehen ähnlich aus wie damals die Banker von Lehman Brothers. Sie sind weiss, männlich und kommen aus den privilegierten westlichen Gesellschaften. Ela Kagel nennt sie die «White Western Crypto Bros» und fragt: «Wo sind eigentlich Leute anderer Kulturkreise? Wo sind die Leute aus dem globalen Süden, die diese Systeme mitformen, wo sind die Frauen, wo ist die feministische Technologie?»
Aber warum ist das eigentlich so? Zu Beginn des Krypto-Hypes konnte schliesslich jeder und jede einsteigen, grosses Kapital oder Vorwissen war nicht nötig. Und trotzdem gab es Hürden: Da war zum einen die Blockchain-Technologie, die zu jener Zeit besonders diejenigen angezogen hat, die sich ohnehin schon für IT interessierten. Wer sich bereits früh für Bitcoin interessierte, hatte zudem häufig viel Zeit, eine gewisse Freude am Risiko und war finanziell in einer zumindest halbwegs sicheren Position. Mit anderen Worten: Die ersten Krypto-User waren fast ausschliesslich junge Männer. IT-Studenten, Videogamer, Pokerspieler. Ihr Glück war, dass die Krypto-Welt diejenigen belohnt hat, die früh dabei waren. Wer 2010 zehn Franken in Bitcoin investiert und lange genug gewartet hat, muss schon längst nicht mehr arbeiten. Und alle, die später eingestiegen sind, haben den Reichtum dieser frühen Nutzer vermehrt. Für Ela Kagel ist dieser Mechanismus ein «Kennzeichen eines Ponzi-Schemes» – also eines betrügerischen Schneeballsystems. Mit dem Unterschied, dass in der Krypto-Welt alles nach transparenten, legalen Regeln funktioniert. Meistens zumindest.
Nicht wenige, die in den letzten Jahren mit Krypto ein Vermögen gemacht haben, waren Betrüger:innen. Sie haben zum Beispiel Währungen erfunden, um andere in die Falle zu locken – und dann mit einem Mal alles Geld wieder herauszuziehen. Im Fachjargon ein «Rug Pull». Für solche Tricks braucht es Ressourcen. Geld, das man ausgeben kann, Kontakte, Angestellte. Und auch wer ganz legal mit Krypto sein Geld machen will, braucht ein gewisses Startkapital. Anders als bei den Krypto-Millionär:innen der ersten Generation sind diese Investor:innen nicht unbedingt IT-Studenten mit viel Tagesfreizeit. Trotzdem: Auch die späteren Krypto-Millionäre sind nicht besonders divers. «Elitär, gierig, männlich» beschreibt sie ein deutsches Finanzportal. Genaue Zahlen gibt es nicht – in der Welt der digitalen Währungen läuft vieles anonym ab.
Wie lässt sich das ändern?
Kagel selbst arbeitet an Krypto-Coins, die solidarischer funktionieren. Doch diese sind heute noch eine Seltenheit. Auch das Umweltbewusstsein der Krypto-Welt, deren Mining grosse Mengen an Strom verschlingt, erwacht erst langsam. Ethereum, die zweitgrösste Krypto-Währung, hat vor einigen Monaten sein Energiesystem umgestellt und damit seinen Energieverbrauch um 99 Prozent reduziert.
Kryptowährungen sind extrem volatile Wertanlagen – wer mit ihnen experimentiert, muss wissen, dass sie zwar krasse Gewinne, aber auch Totalverlust bedeuten können. Wer jetzt noch einsteigen will, kann das immer einfacher tun. Auch neue Investitionsformen wie NFTs (kurz für Non-Fungible-Token), die auf Kreativität und digitale Kunst belohnen, sprechen neue Personenkreise an. Ela Kagel setzt auf ein «neues Wir», ein «Kollektiv der Zukunft», einen digitalen Schwarm, der sich noch einmal an der Utopie versucht, die auch die Anfänge der Kryptowährungen geprägt hat. Trotz aller Fehler sieht sie bis heute vor allem die vielen Möglichkeiten, die digitale Währungen bieten. Doch damit diese ausgeschöpft werden, muss noch viel passieren. Sicher ist nur: Die Kryptos werden nicht mehr verschwinden – und an ihrem Erfolg sollten nicht nur die «White Western Crypto Bros» teilhaben.
Charlotte Theile ist Journalistin und Gründerin des Storytelling-Kollektivs Elephant Stories. Mit diesem produzierte sie im Auftrag des Bernischen Historischen Museums gemeinsam mit Franziska Engelhardt und Claudio Bucher (Sounddesign) den Podcast «Das entfesselte Geld».