Ein früher Nachmittag im Zürcher Volkshaus. Giulia Tonelli, Profi-Balletttänzerin, erscheint auf die Minute pünktlich. Sie bestellt einen Pfefferminztee, die Nacht war streng, ein Kind fiebrig – man sieht es ihr nicht an.
Die italienische Primaballerina war nicht nur jahrelang Publikumsliebling im Opernhaus Zürich, sondern erlangte durch den Dokfilm «Becoming Giulia» auch ausserhalb der Ballettwelt Bekanntheit. Sie zeigt darin scheinbar federleicht, wie sie ihre erste Mutterschaft und die Profikarriere vereint.
Dass dahinter ein enormer Kraftakt steckt, an dem sie nach dem zweiten Kind zu zerbrechen drohte, darüber spricht Tonelli in diesem Money Talk.
Nach 14 Jahren am Opernhaus, davon sechs als Erste Solistin, endete im letzten Sommer Ihre Karriere. Trotz laufenden Vertrags. Wie kam es dazu?
Ich musste aufhören, weil die Arbeitsbedingungen für mich als zweifache Mutter nicht mehr stimmten.
Heisst?
Dazu muss ich etwas ausholen: Nach der Geburt des zweiten Kindes stand ich 13 Wochen später wieder in perfekter Form auf der Bühne – wie bereits nach der ersten Geburt. Ich dachte, dass ich meine Position in der Kompanie nur so halten kann. Ich tanzte für Monate in jedem Stück Hauptrollen, machte die Tournee nach Australien mit. Diese Periode hätte auch junge Tänzer:innen ohne Familie in Not gebracht.
Wie ging es weiter?
Ich musste mir eingestehen, dass es nicht mehr ging. Ich fühlte mich zerbrechlich und musste nun auf meine psychische Gesundheit achten. Zu der Zeit kam ein Direktionswechsel im Ballett Zürich, und ich erhoffte mir, bei der neuen Direktion Verständnis für meine Situation und Hilfe zu finden. Ich konnte und wollte nicht mehr in jeder einzelnen Ballettproduktion tanzen. Also bat ich, dass ich mein Pensum für eine begrenzte Zeit reduzieren könnte. Ich hatte in 14 Jahren am Opernhaus nie um Hilfe gebeten. Doch nun brauchte ich Zeit, um wieder auf die Beine zu kommen. Das war von Seiten des Opernhauses nicht möglich. (Das Opernhaus hält in einer Stellungnahme fest, es sei Tonelli entgegengekommen, Anm. der Red.)
Pensioniert mit 40 – was löst das aus?
Nun, es gibt natürlich das Klischee, von wegen Primaballerina und 40, da wisse man, die Karriere sei jung vorbei. Nur: Wer mich bei meinem Abschied auf der Bühne erlebt hat, hat gesehen, wie viele Möglichkeiten man auch in diesem Alter noch hat. Ich habe stets auf meinen Körper geachtet und habe das Glück, dass er noch sehr fit ist. Plus ist Ballett eben Kunst und nicht nur Sport – die Mutterschaft hat mich zu einer besseren Künstlerin mit mehr Tiefe gemacht. Das Scottish Ballett hat mich aktuell als Gastsolistin eingeladen. Ich tanze die Zuckerfee im Nussknacker, eine technisch und physisch strenge Rolle. Sie hätten mich kaum eingeladen, wenn sie denken würden, dass ich alt aussehe und nicht in der Lage sei, zu tanzen.
Was bedeutet das Ende Ihrer Karriere finanziell für Sie?
Es wird nun schwierig … Ballett ist Leidenschaft, bietet aber keinen finanziellen Komfort. Selbst ein Profi verdient nicht gut. Ich habe immerhin das Glück, dass die Kompanie des Opernhauses europaweit zu den bestbezahlten gehört. Als ich 2010 nach Zürich kam – zuvor hatte ich sieben Jahre in Belgien im Royal Ballet of Flanders getanzt – war ich schockiert, wie viel besser die Bezahlung hier war. In Belgien verdiente ich rund 1500 Euro im Monat, hier holte mich Heinz Spoerli als Solistin für 5500 Franken. Das war für mich enorm viel. Natürlich muss man das aber immer in Relation zu den extrem teuren Lebenskosten hier in Zürich sehen.
Verraten Sie, was Sie im Opernhaus auf dem Höhepunkt verdient haben?
Der letzte Lohn war 7400 Franken pro Monat. Brutto, auf 100 Prozent.
Ist der Lohn angemessen angesichts Ihrer Leistung?
Einerseits muss man sich vor Augen führen, wie wenig Profi-Balletttänzer:innen verdienen. Insofern: Ja, ich habe mich sehr geehrt gefühlt, in Zürich als Primaballerina einen solchen Lohn zu bekommen. Andererseits und verglichen mit anderen anspruchsvollen Jobs, in denen man stets Höchstleistungen bringen und einen Grossteil des privaten Lebens opfern muss: Nein, der Lohn ist nicht angemessen.
Wie schauen Sie also auf Ihre Rente?
Phuu (zuckt die Schultern), gute Frage. Momentan bin ich knapp bei Kasse. Wir werden sehen. Seit wir in Zürich leben, versuchen mein Mann und ich, uns je eine dritte Säule aufzubauen. Diese 3.-Säule-Sache kannte ich aus dem Ausland nicht. Es liegt an mir, weiterhin konsequent Geld für die Zukunft auf die Seite zu legen.
Wie sieht es mit der ersten und zweiten Säule aus?
Da war ich versichert, sowohl die 14 Jahre in Zürich wie auch die sieben Jahre in Antwerpen. Und immerhin habe ich in der Schweiz ja zum Glück 18 Monate Anspruch auf das Arbeitslosengeld des RAVs.
Für eine Primaballerina haben Sie spät mit dem Profi-Tanzen angefangen, erst nach dem Gymnasium …
(Lacht.) Absolut, ja.
… bringt Ihnen diese Schulbildung nun Vorteile für die Zweitkarriere, auch finanziell gesehen?
Nicht wirklich, da ich meine 25 Jahre Berufserfahrung ausschliesslich mit Ballett verbracht habe. Es fällt mir momentan schwer zu akzeptieren, dass alle diese Jahre Erfahrung nicht anerkannt werden. Von der Primaballerina zum RAV, das ist hart. Ich habe mich nun an der Universität Bern für einen Master in Tanzwissenschaft eingeschrieben. Ab Februar drücke ich wieder die Schulbank.
Was erhoffen Sie sich davon?
Ich lerne gerade, dass ein universitäres Papier von Vorteil ist, damit meine Qualifikationen gelten. Auch finanziell gesehen. Ohne Uni-Zeugnis bekomme ich zwar auch einen Job, aber der Lohn ist nicht so gut wie mit Bescheinigung. (Schüttelt den Kopf.) Das ist die Arbeitswelt, in der wir leben.
Haben Sie je Lohnungleichheit erlebt?
Nicht bewusst, nein. Es gibt eine Basis für alle Ersten Solist:innen, am Ende entscheidet aber der oder die Direktor:in, wie viel du wert bist.
Haben Sie mit den anderen Ersten Solist:innen über den Lohn gesprochen?
Ich habe es versucht, aber das ist sehr, sehr privat. Ich weiss also nicht genau, wie viel die anderen verdienen. Was ich allerdings weiss und was mich schockiert hat: Ein ehemaliger Tänzer hat nach der Karriere im gleichen Haus in die technische Abteilung gewechselt – und mir erzählt, dass er nun viel mehr verdient. Und das ohne Ausbildung dort.
Sie waren nicht nur jahrelang Publikumsliebling am Opernhaus, sondern 2023 holte ein Dokfilm über Sie auch den Publikumspreis am Zurich Film Festival. «Becoming Giulia» dreht sich um die Herausforderung, das Leben als Primaballerina und Mutter zu vereinen. Als Mutter und Hobby-Ballerina muss ich Sie fragen: Wie um Himmels willen schafften Sie es, 13 Wochen nach der Geburt wieder auf der Bühne zu stehen?
Ich hatte es mir in den Kopf gesetzt. Und was ich will, bekomme ich. Ich kann sehr stur sein, wenn ich etwas wirklich will. (Lacht, wird wieder ernst.) Ich liebe meinen Job von ganzem Herzen. Ballett ist Teil meiner Identität, Teil dessen, was ich bin. Ich leugne nicht, dass die Zeit nach der Geburt ein hormoneller Wahnsinn ist, dass es sehr schwer war, die Disziplin einer Ersten Solistin wiederzufinden. (Beugt sich vor.) Wollen Sie wissen, was zudem Teil der Wahrheit ist?
Unbedingt.
Kennen Sie das Gefühl, dass man sich als frische Mutter in manchen Momenten komplett verliert?
Nur zu gut.
Eben. Das Baby schrie, und ich wusste manchmal nicht mehr, wer ich war. Tanzen aber gab mir Sicherheit. Es war so lange mein Leben gewesen. Die umgehende Rückkehr auf die Bühne war auch meinem Wunsch geschuldet, Sicherheit zu bekommen. Wieder zu wissen, wer ich war.
Trotzdem. Ich sage nur Beckenbodenmuskulatur …
Natürlich war es ein langer Weg, doch ich hatte Hilfe von Physiotherapeut:innen, um alle Muskeln wieder aufzubauen.
Zu welchem Preis?
Der Preis, den ich bis heute zahle, wurde mir wie eingangs erwähnt erst nach der Geburt meines zweiten Kindes klar. Ich hatte mich übernommen, meine Kräfte überschätzt. Heute wünschte ich, ich könnte die Giulia von damals umarmen und ihr sagen: Es ist okay. Es ist okay, zerbrechlich zu sein. Verletzlich zu sein. Wenn die Leute dich nicht so akzeptieren, sind sie es nicht wert. Obwohl es Jahre dauerte, um Erste Solistin am Opernhaus Zürich zu werden.
Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist hart. Ist es beim Ballett mit seinem Streben nach Perfektion unmöglich?
Ballett ist ein extremer Beruf. Zudem ist Ballett leider immer noch ein patriarchalisches Umfeld, wo die Macht in der Hand einer Person liegt, die über ein Team von 50 oder mehr Tänzer:innen entscheidet. Ich glaube, dass Ballett modernisiert werden muss. Wäre es nicht grossartig, auch erfahrene und reife Tänzer:innen zu behalten? Damit es leichter würde, Mutter und Vater zu werden?
Haben Sie eine Idee?
Es gibt in jedem Ballett eine Junior-Kompanie – warum sollte es also keine Senior-Kompanie geben?
Zurück zum Geld: Was bedeutet Ihnen Geld?
Ich habe nie über Geld nachgedacht, bis ich in die Schweiz kam. (Blickt etwas beschämt zu Boden.) Der Schweiz merkt man an, dass hier viel Geld im Umlauf ist. Das stresst mich manchmal. Ich will meinen Kindern die bestmögliche Zukunft geben, auch finanziell. Das ist als Ballerina nicht einfach. Es ist eine Sache, eine Leidenschaft zu haben, und eine andere, eine Leidenschaft zu finden, die auch Geld bringt. Wir sind als Familie gerade auf der Suche nach einer Vier-Zimmer-Wohnung, doch das ist in der Stadt Zürich für unser Budget fast unmöglich. Ich habe zu Geld also eine Hass-Liebe.
Welche Rolle hat Geld in Ihrer Erziehung gespielt?
Meine Eltern waren beide Uniprofessoren. Wichtiger als Geld war bei uns daheim Kultur.
Gab es finanzielle Werte, die Ihnen von den Eltern vermittelt wurden?
Meine Eltern kommen aus der Arbeiterklasse. Sie waren die ersten, die studiert haben, und sie konnten uns ein abgesicherteres Leben bieten, als sie es hatten. Ihre Devise: Geld gibt man nicht einfach so aus, sondern nur für etwas Gutes. Teure Autos und Kleidung waren ihnen weniger wichtig als Ausflüge und Reisen. Genauso lebe ich heute auch.
Haben Ihre Eltern Ihnen je gesagt, Sie sollten statt Ballett etwas «Richtiges» lernen?
Niemals, nein. Dafür werde ich ihnen ewig dankbar sein.
Sie klingen überrascht?
Bei uns war Lernen wichtig. Ich durfte auf Ballett setzen, es hiess aber auch: Wenn du es machst, mach es gut. Und ich glaube, dass ich in dieser Hinsicht erfolgreich war.
Das ellexx Team empfiehlt
Ja, das unterstütze ich!
Weil Gleichstellung auch eine Geldfrage ist.
Wie wär’s mit einer bezahlten Membership?
MembershipOder vielleicht lieber erst mal den Gratis-Newsletter abonnieren?
Gratis NewsletterHilf mit! Sprich auch Du über Geld. Weil wir wirtschaftlich nicht mehr abhängig sein wollen. Weil wir gleich viel verdienen möchten. Weil wir uns für eine gerechtere Zukunft engagieren. Melde Dich bei hello@ellexx.com
Schicke uns deine Frage: