Die Kosmetikerin in New York, die Marktverkäuferin in Kolumbien, die Bäuerin in Vietnam, die Näherin in Kirgistan, die Unternehmerin in Kambodscha, die Biologin in Costa Rica, die Regisseurin in Georgien und die Lehrerin im Kosovo. Acht Frauen, die etwas gemeinsam haben: Sie arbeiten ausserhalb der eigenen vier Wände und sorgen damit für das Überleben ihrer Familie. Und ihre Stimme verhallt im Lärm dieser Welt.

Unsere Gastautorin hat diese Frauen auf ihrer einjährigen Weltreise in ihren Wohnzimmern besucht, sie bei der Arbeit begleitet und gefragt: Warum tun sie, was sie tun? Und was sind ihre Träume? 

Eine schmale Treppe führt in das Obergeschoss des alten Gebäudes an der Hauptstrasse von Mestia. Knapp 2000 Einwohnende leben in dieser Kleinstadt im Nordwesten Georgiens. Mestia ist der Hauptort der Region Swanetien und ein beliebtes Reiseziel inmitten von Bergen, Gletschern, Wiesen und Flüssen.

Das alte zweistöckige Gebäude ist ein Kino. Jeden Tag ist es geöffnet. Und zeigt immer den gleichen Film: «Dede». An diesem Tag haben die Besuchenden Glück: Hinter dem Tresen steht die Filmregisseurin Mariam Khatchvani (38) höchstpersönlich. Die Regisseurin von «Dede». 97 Minuten dauert das Werk von 2017. Es ist der erste Film überhaupt, der in Swanetien spielt und der die eigene Sprache der Region verwendet.

Mariam Khatchvani
Tiflis kommt mir manchmal vor wie ein Gefängnis. Hier bin ich frei.

Khatchvani gibt Getränke heraus, füllt Popcorn in kleine Schalen, kassiert den Eintrittspreis ein. Normalerweise  leitet ihre Zwillingsschwester Tamar Khatchvani den Kinobetrieb.

«Tiflis kommt mir manchmal vor wie ein Gefängnis»

Eigentlich lebt Mariam Khatchvani in Tiflis, der georgischen Hauptstadt. Ihre Heimat Ushguli – die Stadt liegt eine eineinhalbstündige Autofahrt von Mestia entfernt und gehört zum Unesco-Weltkulturerbe – hat sie vor rund 20 Jahren verlassen. In Tiflis studierte sie an der «Shota Rustaveli Theatre and Film University».

Doch wann immer sie kann, kommt Khatchvani zurück nach Swanetien: «Tiflis kommt mir manchmal vor wie ein Gefängnis. Ich bin dort gefangen in engen Räumen. Hier ist das anders, hier bin ich frei.»


Als Filmregisseurin beschäftigt sie sich seit ihrem Abschluss fast ausschliesslich mit ihrer Heimat. Denn diese war es auch, die sie zur Berufswahl inspiriert hatte. Eigentlich wollte sie Anwältin werden, erzählt sie. Doch dann fiel ihr ein Buch über das swanetische Dorf Khalde in die Hände.

1875 wehrten sich die Swanetier gegen den damals herrschenden russischen Zaren. Die Bewohnenden von Khalde galten als Anführende des Aufstands. Im Jahr darauf brachten die Russen das Bergdorf gewaltvoll unter Kontrolle – fast alle Einwohner:innen  starben oder wurden gefangen genommen. Das Dorf war völlig zerstört.

Noch heute denken die Swanetier an die Held:innen von Khalde zurück. In einem Lied besingen sie deren Mut und Kampfgeist.

Die Geschichte inspirierte Mariam Khatchvani. «Ich habe mir gedacht: Es wäre gut, wenn es darüber einen Film geben würde. Also wollte ich Filmregisseurin werden.» 

Ihr erster Kurzfilm entstand 2013. Mit «Dinola» machte sich Khatchvani einen Namen. Sie wurde zu internationalen Filmfestivals eingeladen, reiste nach Italien, China und Australien. Und gewann mehrere Auszeichnungen. Doch das war für Khatchvani nur ein Zwischenstopp.

Mariam Khatchvani
Mein Produzent aus Tiflis warnte mich vor der Veröffentlichung des Films.

Eigentlich wollte sie schon immer «Dede», einen längeren Spielfilm, drehen. Nun kam sie leichter an die ersehnten Fördergelder heran. Damit finanziert sie nicht nur die Dreharbeiten, sondern auch den Lebensunterhalt ihrer kleinen Familie.

Selbst Opfer der alten Traditionen

Im Film, der in der Zeit um 1990 spielt, geht es um Zwangsheirat, um Kidnapping von jungen Frauen, um den Tod. Aber auch um Liebe, um Traditionen, um die Kultur Swanetiens. «Mein Produzent aus Tiflis warnte mich vor der Veröffentlichung des Films, es könnte sein, dass mich die Leute aus Swanetien danach nie mehr sehen wollen», erzählt Khatchvani. Dazu kam es nicht: «Ich weiss nur von einem Mann, der den Film nicht mochte. Alle anderen freuten sich, endlich einen Film in unserer Sprache und aus unserer Region zu sehen.» 



Filmkritiker:innen waren ebenso begeistert von Khatchvanis Werk. «Feminismus trifft Fatalismus in diesem starken und wunderschönen georgischen Melodrama», hiess es etwa in «The Hollywood Reporter». Khatchvani sagt, sie sei früher selbst Opfer der damals vorherrschenden patriarchalen Tradition gewesen. Mit 18 Jahren hätten ihre Eltern Angst gehabt, sie alleine rausgehen zu lassen. Zu gross sei das Risiko gewesen, dass auch sie gekidnappt und dann zwangsverheiratet würde.

Obwohl die Gesetze Georgiens verschärft wurden, kommt es auch heute noch zu Kidnappings von jungen Frauen. Alleine 2020 waren es über 30 Fälle – wobei die Dunkelziffer vermutlich deutlich höher liegt.

Mariam Khatchvani
Dank meines Kurzfilms kam ich leichter an die ersehnten Fördergelder heran.

Aber für Khatchvani ist es wichtig, zu sagen: «Nicht nur die Frauen sind Opfer der Tradition. Auch die Männer haben darunter gelitten. Denn wenn du ohne Liebe heiraten musst, ist das für beide schwierig.» Im Film habe sie das durch die Figur «David» darstellen wollen: Er sollte «Dina» heiraten, so wollten es die Eltern der beiden. Doch sie hatte sich bereits in einen anderen verliebt. Als David dies erfährt, begeht er Suizid. Zu gross die Scham und Demütigung.

Zurück ins Kino in Mestia. Es riecht nach Popcorn. Mariam Khatchvani hält ihre dreijährige Tochter Marta an der Hand. Sie unterhält sich gerade mit einem Paar aus Frankreich, auch Filmschaffende, die sie an einem Festival kennengelernt hatte.

Ihr Netzwerk erstreckt sich über die ganze Welt. Sie kennt Schauspieler, Filmregisseurinnen und Produzenten. Und lädt sie immer wieder ein, die Region Swanetien selbst zu erleben.

Zusammen mit ihrem Mann veranstaltet Mariam Khatchvani jährlich das Svaneti International Film Festival in Mestia. Dann werden die Liegestühle draussen auf dem grossen Platz aufgestellt. Und der Popcornduft erfüllt die ganze Kleinstadt.

Zur Autorin: Silvana Schreier ist aktuell Redaktorin bei der Regionalzeitung «bz – Zeitung für die Region Basel». Während ihrer Reise hat sie als freischaffende Journalistin gearbeitet. Sie lebt in Olten.


Sie sucht eine bessere Zukunft im alten Handwerk
Viele junge Kosovar:innen suchen ihr Glück ausser Landes, Mimoza Nikqi hält an ihrer Heimat fest. Im Money Talk Global erzählt sie von Kriegsangst und Zukunftsträumen.
Vierfache Mutter und Marktverkäuferin
Vier Kinder hat Yorley Cardona Posso grossgezogen. Daneben arbeitet sie täglich auf einem Markt in der kolumbianischen Grossstadt Medellin. Sie erzählt, was sie sich für ihre Kinder wünscht und warum sie auf dem Markt alle Kisten selbst schleppt.
Money Talk Global: Sie ist geübt im Begraben ihrer Träume
Sechs Tage die Woche sorgt Autumn Phyall als Kosmetikerin dafür, dass sich ihre Kund:innen schön fühlen. Was für andere «self care» ist, ist für die alleinerziehende New Yorkerin harte Arbeit und lebensnotwendiges Einkommen. Ihr Traum war ein anderer.