Die Kosmetikerin in New York, die Marktverkäuferin in Kolumbien, die Bäuerin in Vietnam, die Näherin in Kirgistan, die Unternehmerin in Kambodscha, die Biologin in Costa Rica, die Regisseurin in Georgien und die Lehrerin im Kosovo. Acht Frauen, die etwas gemeinsam haben: Sie arbeiten ausserhalb der eigenen vier Wände und sorgen damit für das Überleben ihrer Familie. Und ihre Stimme verhallt im Lärm dieser Welt.
Unsere Gastautorin hat diese Frauen auf ihrer einjährigen Weltreise in ihren Wohnzimmern besucht, sie bei der Arbeit begleitet und gefragt: Warum tun sie, was sie tun? Und was sind ihre Träume?
Mimoza Nikqi (37) wacht an diesem Sonntag nichts ahnend auf. Erst als sie ihr Smartphone anstellt, wird ihr bewusst, was geschehen ist, während sie geschlafen hat. Es ist die Nacht auf den 24. September 2023. Serbische Separatisten blockieren mitten in der Nacht die Strasse im Ort Banjska im Nordwesten Kosovos. Sie schiessen auf kosovarische Polizeiangehörige, verletzen einen Polizisten tödlich. Danach verschanzen sie sich in einem orthodoxen Kloster. Nach weiteren Schusswechseln stürmt die Polizei das Gebäude, drei serbische Angreifer werden getötet.
Nikqi erfährt aus den Nachrichten vom Angriff auf die Unabhängigkeit Kosovos. Alles scheint darauf hinzudeuten: Der Konflikt zwischen Serbien und Kosovo flammt auf. Und damit werden bei Mimoza Nikqi und ihrer Familie zahlreiche Erinnerungen geweckt. Erinnerungen, die sie tief begraben geglaubt hatten.
Zwei Jahre lang auf der Flucht
Es ist ein dunkles Kapitel der Landesgeschichte – für die gesamte kosovarische Bevölkerung. Der Krieg zwischen der albanischen paramilitärischen Miliz für die Unabhängigkeit Kosovos und der serbischen Armee von 1998 und 1999. Mimoza war zwölf Jahre alt. Ihre Mutter flüchtete zuerst. Erst, als sie sicher sein konnte, dass ihre Kinder die Flucht nach Montenegro schaffen, holte sie ihre Familie nach. Mimoza und ihre beiden jüngeren Brüder waren zwei Jahre lang nicht zu Hause. Sie besuchten Schulen in Montenegro und später in Albanien. Als sie zurückkamen, in eines der dreizehn Dörfer in den Rugova-Bergen, lebten serbische Familien in ihren Häusern.
Heute lebt Nikqi in Peja, der viertgrössten Stadt des Kosovos mit fast 100’000 Einwohner:innen. Auch ihre Eltern und ihre Brüder sind unterdessen in die Stadt gezogen, die kaum näher an der montenegrinischen Grenze sein könnte. In Peja ist der andauernde Konflikt zwischen Serbien und Kosovo unübersehbar. Das serbisch-orthodoxe Kloster am Rande der Stadt wird vom Militär bewacht. Kosovar:innen fahren daran vorbei, ohne die historischen Gebäude eines Blickes zu würdigen. Einzig ein paar Tourist:innen besuchen die Stätte, die von serbisch-orthodoxen Nonnen bewohnt ist.
Sie will die Traditionen weitertragen
Nikqi hat den Krieg hinter sich gelassen. Anders als andere junge Kosovar:innen hat sie sich entschieden, in ihrem Heimatland zu bleiben. Sie hat in Peja Kunst studiert und eine Tochter geboren. Sie erzählt lieber von heute, von ihrer neunjährigen Tochter, von ihren Projekten, ihrem Handwerk und ihrem Studium. Ihre Kindheit bis zum Krieg beschreibt sie als unbeschwert. «Wir hatten natürlich kein Mobiltelefon, keinen Computer. Dafür konnten wir aus dem Nichts schöne Dinge schaffen.» Sie habe Puppenkleider aus Stoffresten genäht, gehäkelt oder gemalt. «Meine Grossmutter hat mich immer sehr inspiriert. Sie hat mir die Traditionen Kosovos gezeigt.»
Heute sind die Traditionen Nikqis Beruf, Leidenschaft und Einkommen. Sie häkelt Strickjacken, Mützen, Taschen und Decken. Und verkauft diese in ihrem Onlineshop sowie in zwei Läden und einem Gasthaus im Kosovo. Jedes Teil ist ein Unikat.
Zweimal das gleiche, das macht Nikqi nicht. So ist auch die knielange Strickjacke aus bunten, gehäkelten Quadraten ein Einzelstück. «Ich habe drei oder vier Tage daran gearbeitet. Aber das entspannt mich, es ist wie Meditation.» Eine Handtasche verkauft Nikqi für rund 40 Euro, eine Strickjacke kostet je nach Muster bis zu 80 Euro.
«Zum Überleben, nicht zum Leben»
Abends, wenn die Tochter schläft, häkelt Nikqi bis spät in die Nacht. «Ich brauche viel Energie, um alles gleichzeitig zu schaffen.» Auf einmal wirkt die alleinerziehende Mutter abgekämpft. Arbeit, Kind und dann noch das Studium. Nikqi studiert im dritten Jahr Lehramt. Drei Tage die Woche fährt sie mit dem Bus in die drei Stunden entfernte Stadt Prizren, wo der Unterricht stattfindet.
Das Geld, das sie mit dem Verkauf ihrer Einzelstücke einnimmt, reiche gerade so. «Zum Überleben, nicht zum Leben», sagt sie leise. Noch ein Jahr lang müsse sie durchhalten, mit dem Diplom als Lehrerin soll alles besser werden, hofft sie.
2017, da war ihre Tochter Jara drei Jahre alt, hat Nikqi mit Unterrichten begonnen. Sie stellte Sommerkurse für Kinder aus Peja auf die Beine. Aus T-Shirts wurden Garnknäuel und später gehäkelte Armbänder, aus alten Fenstern ein riesiges Gemälde, an dem alle Kinder gemeinsam gearbeitet hatten. «Ich sammle Abfall, aber nur den nützlichen», sagt Nikqi und lacht. Was immer sie findet, nutzt sie für Kunstprojekte. «Alle hier im Quartier wissen, dass ich gebrauchte Dinge sammle, und rufen mich an, wenn irgendwo etwas rumsteht.»
Nikqi will den Kindern einen sorgsamen Umgang mit der Umwelt beibringen. «Sie müssen wissen, dass wir der Welt Sorge tragen müssen.» Sobald sie das Diplom hat, will sie ihre beiden Leidenschaften verbinden: das Unterrichten und das Kunsthandwerk.
Das hätte auch sie sein können
«Manchmal denke ich darüber nach, aus dem Kosovo wegzugehen», sagt Nikqi unvermittelt. Vor allem nach dem 24. September 2023 kam dieser Gedanke vermehrt auf. Viele ihrer Schulfreund:innen leben nicht mehr hier. Sie zogen der Liebe oder der Arbeit wegen weg.
Zwei Freundinnen gründeten in der Schweiz ein kleines Unternehmen, sie verkaufen im Kosovo gehäkelte Taschen und Accessoires in Boutiquen. Das hätte auch sie sein können, denkt Nikqi manchmal.
Doch schnell verwirft sie den Gedanken ans Auswandern wieder: «Ich habe mir auch schon überlegt, nach Pristina zu ziehen», sagt sie nun. Noch nicht jetzt, ihre Tochter sei ja hier in der Schule. Aber vielleicht irgendwann. Vielleicht könnte die Zukunft dort vielversprechender sein – für sie und für ihre Tochter.
Zur Autorin: Silvana Schreier ist aktuell Redaktorin bei der Regionalzeitung «bz – Zeitung für die Region Basel». Während ihrer Reise hat sie als freischaffende Journalistin gearbeitet. Sie lebt in Olten.
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