Die Kosmetikerin in New York, die Marktverkäuferin in Kolumbien, die Bäuerin in Vietnam, die Näherin in Kirgistan, die Unternehmerin in Kambodscha, die Biologin in Costa Rica, die Regisseurin in Georgien und die Lehrerin im Kosovo. Acht Frauen, die etwas gemeinsam haben: Sie arbeiten ausserhalb der eigenen vier Wände und sorgen damit für das Überleben ihrer Familie. Und ihre Stimme verhallt im Lärm dieser Welt.
Unsere Gastautorin hat diese Frauen auf ihrer einjährigen Weltreise in ihren Wohnzimmern besucht, sie bei der Arbeit begleitet und gefragt: Warum tun sie, was sie tun? Und was sind ihre Träume?
Pày runzelt ihre Stirn. Mit Unsicherheit im Blick schaut sie zu Dien Ly, der die Fragen in ihre Sprache übersetzt. «Mein Traum?», fragt sie leise. Sie blickt in die Weite, die Stirn bleibt gerunzelt. Dann ein leichtes Schulterzucken. «Ich weiss es nicht.»
Pày (27) ist Bäuerin, Hausfrau und Mutter. Nachnamen braucht es im kleinen Dorf Nam Dam im Norden Vietnams nicht, man kennt sich. Pàys vierjähriger Sohn folgt ihr auf Schritt und Tritt, ihr sechs Monate alter Sohn schläft im Tragetuch auf ihrem Rücken. Frühmorgens muss Pày die Schweine und Wasserbüffel füttern sowie mit Ehemann und Schwiegervater das Reisfeld bestellen. Alle in der Familie müssen mit anpacken – ungeachtet des Alters oder Geschlechts. Entscheide werden gemeinsam gefällt.
Eine von 53 ethnischen Minderheiten
Pày und ihre Familie gehören zu einer ethnischen Minderheit Vietnams, den Dao, einem Volk mit Ursprung in China, das heute rund 900'000 Angehörige alleine in Vietnam umfasst. Dao-Gemeinschaften sind auch in China, Laos und Thailand anzutreffen. Die Dao sind eine von insgesamt 53 ethnischen Minderheiten, die rund dreizehn Prozent der vietnamesischen Bevölkerung ausmachen. Damit gehören in Vietnam mehr als zwölf Millionen Menschen einer Minderheit an.
Der Staat versucht seit Jahren, die Völker durch unterschiedliche Programme zu stärken und zu erhalten; Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung sicherzustellen, die Sprachen zu erhalten und die Armut zu verringern. Rund 90 Prozent der von Armut betroffenen Vietnames:innen stammen aus einer ethnischen Minderheit. Ihr Einkommen beträgt knapp die Hälfte des landesweiten Durchschnitts von monatlich 230 Franken.
Gastgeberin, Bäuerin und Mutter zugleich
An einem riesigen, niedrigen Tisch im Erdgeschoss des Lehmhauses von Pàys Familie sitzen Tourist:innen und Touristen aus aller Welt auf kleinen Holzhockern. Das Licht flackert. Pày stand den ganzen Nachmittag über an ihrem Herd, der mit Holz befeuert wird und zwei grosse, verrusste Pfannen erhitzen kann. Nun trägt sie Teller um Teller in den Essraum. Hühnchen, Reis, gekochte Bambussprossen, Suppe. Die Fliegen schwirren umher. Zusammen mit ihrem Mann hat Pày ihr Grundstück in ihrem Heimatdorf in ein Gasthaus verwandelt. Die kleinen Bungalows mit Lehmwänden und einem Balkon mit Blick auf die Reisfelder sind ihre neue Einkommensquelle. Und die wichtigste.
Wie fast 40 Prozent der vietnamesischen Bevölkerung waren auch Pày und ihre Familie ursprünglich nur in der Landwirtschaft tätig. Zwar gehört Vietnam zu jenen Ländern mit dem grössten Reis- und Fischexport weltweit, die Verhältnisse in der Branche sind aber prekär: Finanzielle Sicherheiten gibt es nicht, und die harte körperliche Arbeit fordert ihren Tribut. Pày wollte einen anderen Weg gehen. 2019 beherbergte sie erste Gäste in ihrem sogenannten «Homestay». Der Tourismus sollte ihr Ausweg aus der Landwirtschaft sein. Aber dann kam die Coronapandemie. Sie machte dem Plan der kleinen Familie aus Nam Dam fast einen Strich durch die Rechnung: Pày dachte darüber nach, das Dorf zu verlassen, um in einer grossen Fabrik Arbeit zu finden. Sie sagt: «Ich lebe gerne in diesem Dorf. Ich möchte nicht wegziehen.»
Tourismus ist für die Völker ethnischer Minderheiten eine Chance. Der Staat bietet finanzielle Anreize für alle, die Gäste beherbergen. Mehr Einkommen, besserer Zugang zum Gesundheitswesen und zur Bildung, die lokale Wirtschaft wird angekurbelt. Doch die Tourist:innen, die begleitet von Reiseführer:innen in die abgelegenen Dörfer reisen, bergen auch Risiken: Gerade Frauen leiden unter der zusätzlichen Belastung, Mädchen brechen die Schule ab, um zu arbeiten. Dazu kommt die Objektivierung der Menschen, indem sie von Tourist:innen abgelichtet und als Unterhaltung angesehen werden.
Geld sparen für die Zukunft der Söhne
Pày sagt: «Als die ersten Ausländer:innen zu uns kamen, hatte ich ein bisschen Angst vor ihnen. Ich hatte zuvor noch nie weisse Menschen gesehen. Aber heute freuen wir uns über alle, die kommen.» Die Gäste öffneten ihren Blick auf die Welt. Sie schnappt immer wieder neue englische Wörter auf. Und sie sieht eine neue Zukunft für ihre Söhne: «Ich wünsche mir, dass meine Kinder die beste Schule besuchen können. Vielleicht sogar eine internationale, damit sie nicht in der Landwirtschaft arbeiten müssen. Darum arbeite ich jetzt sehr hart, um dafür Geld zu sparen.»
Und jetzt weiss sie die Antwort auf die Frage: Was ist ihr Traum? Pày sagt: «Mein Traum ist klein. Ich möchte nicht mehr auf der Farm arbeiten müssen.»
Zur Autorin: Silvana Schreier ist aktuell Redaktorin bei der Regionalzeitung «bz – Zeitung für die Region Basel». Während ihrer Reise hat sie als freischaffende Journalistin gearbeitet. Sie lebt in Olten.


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