Wurdest du auch schon von der neuen Welle der Demokratie, die gerade um den Globus geht, erfasst? «Wie bitte?» Das wirst du dich wohl fragen. «Demokratie? Global? Entsteht gerade ein globaler Staat? Das will ich nicht.»
Keine Sorge, Du hast nichts verpasst. Zumindest nicht die Wahl einer Weltregierung. Darum geht es nämlich nicht. Nein, der Begriff Demokratie bezieht sich neuerdings auf Anlagen. Konkret, auf Finanzanlagen. Der Trend, dass immer mehr Finanzdienstleistungen, die bisher nur wohlhabenden Privatkunden oder institutionellen Investoren angeboten wurden, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, wird als «Demokratisierung der Finanzmärkte» bezeichnet.
Alle sollen daran teilhaben dürfen. Und das ist grossartig! So kam eine Durchschnittssparerin ohne persönlichen Anlageberater lange Jahrzehnte nicht auf die Idee, sich am Aktienmarkt zu beteiligen. Zu kompliziert, zu intransparent für die Kundin, und zu wenig lukrativ für Banken war das Anlagegeschäft mit Kleinsparerinnen.
Und diese verpassten dadurch vieles. Die Aktienmärkte sind schliesslich der grösste Wohlstandsmotor der letzten Dekaden. Mit Geld lässt sich viel mehr Geld verdienen als mit Arbeit. Das bedeutet aber auch: wer hat, dem wird gegeben und die Ungleichheit in den Vermögen wächst. Dank moderner Technologien sinken aber die Zugangshürden stetig. Alles lässt sich digitalisieren und skalieren. Und plötzlich werden wir alle zu Anlegerinnen. Heute reichen ein paar Klicks und ein paar Swipes und schon bin ich mitten im Finanzmarkt. Finanzielle Inklusion in den 2020er Jahren.
Noch besser: dank Kryptowährungen erweiterte sich das Anlagespektrum in den letzten Jahren. Nicht nur Aktien sollen wir alle besitzen, auch Bitcoins! Die Handelsplattform Binance sagt: Handle deine Bitcoins und mehr als 300 weitere Kryptowährungen «jederzeit und überall». Ganz unkompliziert, oder in Binance’ Worten: «easy and intuitive». Oh, Intuition? Cool, ich dachte immer, man müsste analytisch denken beim Anlegen. Und viel verstehen von Zahlen, Zinsen und so… Das scheint nun nicht mehr nötig zu sein. Gottseidank.
Trotzdem wird mir mulmig dabei. Bei allem Respekt und meiner vollen Unterstützung dafür, dass alle an den Finanzmärkten teilnehmen dürfen… was läuft da eigentlich? Was wird mir da verkauft? Geht es hier wirklich darum, dass ich durch kluge Investitionen meine Rente aufbessere oder Geld für ein Eigenheim erwirtschafte? Oder werde ich gerade zur Spekulation aufgefordert, also zum risikoreichen Traden, bei dem es darum geht, in kürzester Zeit möglichst viel Gewinn zu erzielen?
Auch in der Schweiz boomen sogenannte Neo Brokers, die mit teils aggressiven Kampagnen um neue Kundinnen buhlen. Aber bevor wir uns die Finger verbrennen an «heissen Kryptos» und bevor wir nicht mehr schlafen können, weil der Markt 24/7 läuft, lohnt sich ein Blick ins Ausland.
Dort wird diese Art der aggressiven Vermarktung von niederschwelligem, schnellem Trading, und zwar sowohl auf Aktien als auch auf Kryptowährungen bezogen, mittlerweile als gesundheitsgefährdend betrachtet. In Südkorea warnte die Regierung schon 2017 vor «sozialpathologischen Phänomenen» bei sogenannten «Bitcoin Zombies».
So weit hergeholt scheint das nicht, wenn man verfolgt, mit welcher Vehemenz einige Bitcoin-Fanatiker ihre Anlagestrategie verteidigen. In den USA wird der Robinhood App, auf der Anlegerinnen schon ab 1 Cent Aktien kaufen können, vorgeworfen, dass sie «financial addiction», finanzielle Abhängigkeit, zu einem Massenphänomen mache. Und in Schottland gibt es mittlerweile spezialisierte therapeutische Behandlungen für Krypto-Süchtige. Dort landen diejenigen, die irgendwann unter dem Stress des 24/7 Angebots zusammenbrechen. Wobei die Krypto-Sucht in dieser Klinik wie jede andere Form von Spielsucht behandelt wird.
Die Analogie ist kein Zufall, denn Forscher haben herausgefunden, dass beispielsweise das Design der Robinhood App Elemente enthält, die einen Dopaminrausch verursachen. Dopamin ist ein Botenstoff im menschlichen Gehirn, der in Rückkopplung mit dem Wohlfühlhormon Serotonin einen Belohnungseffekt erzeugt mit dem Wunsch nach Wiederholung.
Also, deshalb, bevor das vermeintliche Glücksrad zum Hamsterrad wird: Zugang zu Investitionen für alle – ja! Aber bitte mit Vernunft und Mass. Immer mit der Ruhe. In klarem Kontrast zu dem was gerade abgeht, erinnere ich mich an einen Bank Werbeslogan aus den Neunziger Jahren. Der hiess: «Bei uns muss Ihr Geld arbeiten». Klingt mega langweilig, aber irgendwie werde ich fast schon nostalgisch.