Westliche Unternehmen in Russland sehen sich seit Beginn des grausamen, völkerrechtswidrigen Krieges gegen die Ukraine massiv unter Druck, sich zu entscheiden: Bleiben oder gehen?
In der Welt von Social Media scheint der Fall klar zu sein. Hier wissen immer alle, was richtig und falsch ist. Es gibt keinen Platz für Grautöne. Zumindest in meiner Bubble dominieren die Stimmen, die fordern, dass alle Beziehungen zu Russland abgebrochen werden.
Für sie ist der Fall klar. Wer geht, tut das einzig Richtige. Westliche Unternehmen sollen sofort die Aktivitäten in Russland einstellen. Umgekehrt gilt: Wer bleibt, macht sich schuldig am Krieg, an den grauenhaften Menschenrechtsverletzungen. Er unterstützt direkt Putin. An seinen Händen klebt Blut.
Man kann aber auch anders argumentieren: Unter einem Rückzug von westlichen Unternehmen aus Russland leiden auch viele Unschuldige. Zum Beispiel über 60'000 Angestellte von McDonalds, viele davon mit Familie, darunter Kinder, Alte und Schwache. Und unzählige zuliefernde Bauern. Längst nicht alle diese Menschen unterstützen Putin und den Krieg.
Gleichzeitig bleibt offen, wie stark der Rückzug von westlichen Konsumgüterunternehmen dazu führt, dass der Krieg schneller endet. Denn im Unterschied zu Rohstofffirmen sind Unternehmen wie Ikea, Nestlé oder McDonalds nicht staatsnah und ihre Güter haben nichts mit dem Krieg zu tun. Ihre direkteste, unvermeidliche Verbindung zum Regime besteht aus Steuerzahlungen.
Alte Debatte um Rückzug aus Unrechtsstaaten
Die Debatte über die Verantwortung von Unternehmen in Unrechtsstaaten ist nicht neu. Sie rückte aber seit dem Ende des Kalten Krieges in den Hintergrund. Seither wurde die Wirtschaft globalisiert. Freier Welthandel auf Biegen und Brechen war das Credo der letzten drei Jahrzehnte. Mit wenigen Ausnahmen von Staaten wie Nordkorea oder dem Iran, denen internationale Sanktionen auferlegt wurden, war uns egal, wo Unternehmen genau wirtschafteten. Hauptsache, die Wirtschaft brummte. Nun schauen wir kritisch hin. Und das ist gut so.
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Die Forderung, dass sich westliche Unternehmen aus Unrechtsstaaten zurückziehen sollen, war schon früher populär. In den 1970er und 1980er Jahren gab es in den USA und Westeuropa heftige Proteste gegen westliche Unternehmen in Südafrika. Das war bis auf Schweizer Pausenplätze spürbar.
Ich erinnere mich daran, wie ich als ahnungslose 13-Jährige an den Pranger gestellt wurde, weil ich einen Granny Smith Apfel ass. Der kam aus Südafrika. Wie konnte ich nur! In Südafrika herrschte Apartheid. Strikte Rassentrennung. Schwarzen Menschen wurden die grundlegendsten Rechte verwehrt. Der Staat diskriminierte und erniedrigte sie konsequent und erbarmungslos. Kein Wunder wurde im Westen kritisiert, wenn Unternehmen unter diesen Umständen Geld verdienten oder wenn wir dieses Regime durch unseren Konsum unterstützten.
Auch damals schien es für Unternehmen nur zwei Möglichkeiten zu geben: Bleiben oder gehen. Doch dann kam Leon H. Sullivan, ein afroamerikanischer Pfarrer und Bürgerrechtsaktivist, und Verwaltungsrat von General Motors. Er zeigte eine Alternative zu einem vollständigen Rückzug auf. Seine Forderung an Unternehmen lautete: «Bleibt vor Ort, aber setzt euch für den Wandel ein.»
Sullivan formulierte Prinzipien, die westliche Unternehmen in Südafrika unterzeichnen sollten. Keine Rassentrennung in den Betrieben, gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit, die Verbesserung der Lebensbedingungen ausserhalb der Unternehmen – so lauteten einige seine Forderungen. Er widersetzte sich damit der Anti-Apartheid-Bewegung, welche die totale Isolierung Südafrikas forderte.
Die Sullivan-Prinzipien bewirkten keine Wunder, aber die beteiligten Unternehmen schufen Wandel im Kleinen. Sie zeigten einen neuen Weg auf im Umgang mit Unrechtsstaaten, nämlich den Weg durch Wandel von innen.
Nun lässt sich die Situation im Südafrika der Apartheid zwar nicht 1:1 auf die aktuelle Situation in Russland übertragen. Dennoch sehe ich Parallelen.
Wer bleibt, muss dem Unrecht entgegenwirken
Auch heute sind wir uns einig: Russland ist ein Unrechtsstaat und gehört verurteilt. Einfach vor Ort zu bleiben und «business as usual» zu betreiben, ist keine Option. Wer bleibt, hat Pflichten. Zum einen dürfen nur Unternehmen bleiben, deren Güter nicht direkt dem russischen Staat und damit dem Krieg dienen. Zum anderen gilt ebenso wie damals in Südafrika: Unternehmen, die in Russland bleiben, müssen sich, wo immer es geht von Putin und seinem Regime abgrenzen.
Sie müssen dem Unrecht entgegenwirken. Dazu gehört im Minimum, dass Unternehmensführungen den Krieg in aller Schärfe verurteilen. Wer das nicht tut und einfach schweigt, wird zum Komplizen. Wer die verlogenen, manipulativen Sprachregelungen des Regimes befolgt, trägt die Propaganda mit.
EMS-Chefin macht sich zur Komplizin des Regimes
Diesen Vorwurf muss sich die EMS-Chemie gefallen lassen. Sie hat sich entschieden, in Russland zu bleiben. Sie begründet das mit der Verantwortung gegenüber den Mitarbeitenden. Diese Argumentation ist durchaus vertretbar, da die EMS-Produkte nichts mit dem Krieg zu tun haben.
Der Fehler liegt darin, dass die EMS-Chemie die Mitarbeitenden offensichtlich per Mail dazu aufforderte, von «Ukraine-Konflikt» statt von «Krieg» zu sprechen. Sie bezog sich dabei auf den Schutz der Mitarbeitenden vor Ort. Diesen drohen angeblich bis zu 15 Jahre Gefängnis, wenn sie von «Krieg» reden. Mit diesem Vorgehen macht sich die EMS-Chemie zum Komplizen des russischen Regimes. Sie stärkt den Status quo und verhindert den Wandel. Ausserdem bevormundet sie ihre Mitarbeitenden. Diese müssen selber abwägen, welche Worte sie wählen und wie gross die Gefahr ist, dass sie ins Straflager geschickt werden, weil ihr Arbeitgeber die Propaganda nicht mitträgt.
Unternehmen, die in Russland bleiben, haben nicht nur die Chance, sondern die Pflicht, durch ihre Präsenz, die Wahrheit ins Spiel zu bringen. Wenn ein Verbleib im Land wirklich nur möglich ist, wenn man die Propaganda mitträgt, dann ist es Zeit, zu gehen.
Man sagt: Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit. Ich ergänze: Wer aktiv an ihrer Abschaffung arbeitet, wird Kriegspartei. Verantwortungsvolle Unternehmen nennen die Dinge beim Namen.