Als mein Sohn noch sehr klein war, meine Beine und mein Kopf schwer von den durchwachten Nächten, tat sich vor mir eine Weggabelung auf: links ein ermüdender Pfad, rechts ein ermüdender Pfad. Das Medienunternehmen, bei dem ich damals arbeitete, brauchte mich dringend als Teamchefin, und unsere kleine Familie brauchte das Geld, das uns meine zusätzliche Erwerbsarbeit bringen würde. Gleichzeitig brauchte mein Sohn mich – und ich dringend Erholung. Die meisten Menschen, die Kinder haben, kennen das: Eine wirklich gute Lösung gibt es nicht.
Dafür gibt es die Klippe.
Ich rechnete: Ein Tag pro Woche zusätzliche Erwerbsarbeit würde uns etwa 1300 Franken im Monat bringen. Dafür würde uns der zusätzliche Tag in der Kita – haben wir eine andere Betreuungsmöglichkeit? Nein. Können wir unserem Sohn das zumuten? Ich glaube, ja, ich bleibe wachsam – knapp 600 Franken im Monat kosten. Bleiben also rund 700 Franken. Dafür dürften die Steuern etwas steigen, die knappe bisherige Kita-Verbilligung fällt ganz weg, übrig bleiben somit: vielleicht 500 Franken? Das wären dann noch rund 38 Prozent meines Zusatzeinkommens.
Und das ist ziemlich repräsentativ. Wenn ein Elternteil – in der Regel, ha, nein, fast immer ist es die Mutter – nach der Elternzeit zurück in den Job kommt, bleiben ihr in der Schweiz unter dem Strich von 100 neu verdienten Franken gerade noch 35 Franken. Den Rest fressen die dadurch entstehenden Ausgaben oder wegfallende Verbilligungen weg. Der grösste Posten ist dabei stets die Kita-Betreuung: Sie kostet in der Schweiz im Schnitt rund 35 Prozent eines Durchschnittseinkommens. Das ist ein internationaler Spitzenwert; im OECD-Schnitt sind es 13, in Frankreich 12, in Südkorea 5 und in Deutschland 1 Prozent.
Hinzu kommt, eben, die Klippe – oder, wie Ökonom:innen sagen würden, Schwelleneffekte: Wer über ein bestimmtes Haushaltseinkommen kommt, verliert fast auf einen Schlag allfällige Ansprüche auf Verbilligungen und Subventionen. Diese Klippe zieht sich in der Schweiz quer durch die Mittelschicht. In der Realität bedeutet sie oft: Kurzfristig betrachtet lohnt sich mit Kindern ein 60-Prozent-Pensum noch knapp – mehr kaum. Und wer mehr erwerbstätig sein muss, weil es finanziell sonst schlicht nicht reicht, hat viel zu wenig davon übrig. Die Müdigkeit in den Knochen bleibt sowieso.
Das Interessante an Realpolitik ist, dass sie zu den wirklich wichtigen Dingen oft schweigt: Die lassen sich nicht in Paragrafen giessen. Sie spricht beispielsweise nicht von den ungezählten kleinen Akten, mit denen Frauen gemeinsam die Gesellschaft zusammenhalten: Wie sie einander beistehen, füreinander Essen kochen, auf Kinder aufpassen. Die Realpolitik hat keine Worte dafür, dass alles still stünde, würden alle Frauen streiken, und dass alles, die gesamte Geschäftigkeit und Wirtschaftsleistung, nur Staub im Wind wäre, gäbe es keine Kinder mehr. Weisheit lässt sich nicht per Verfassung verordnen. Politik bleibt eine Krücke.
Das Kita-Gesetz, das im Moment im Ständerat hängt und das der Anlass ist, dass ich das hier schreibe, ist kein Jahrhundertwerk, wie es beispielsweise die Einführung der AHV war. Es ist eine ebensolche Krücke: weil es zwar eine schöne Vorstellung ist, dass sich alle Kinderbetreuung über Nachbarschaftshilfe und Grossfamilie auffangen lässt – aber eine unrealistische. Weil es von einem Staat darum nicht nur punktuell Geld für einzelne Familien braucht, sondern eine verlässliche Infrastruktur. Also: bezahlbare Kindertagesstätten.
Der Bund hat über die letzten Jahre Geld gesprochen, damit es mehr Kita-Plätze gibt. Das Programm läuft bald aus. Stattdessen soll er nun künftig 20 Prozent der Elternbeiträge übernehmen und ausserdem die Kantone in der Verbesserung des Angebots und in der Qualitätsentwicklung unterstützen. Das hat der Nationalrat im März entschieden. Die Idee dahinter: Es braucht langfristig eine gute und bezahlbare Kita-Infrastruktur – weil unsere Gesellschaft sowohl auf Kinder angewiesen ist als auch auf die Erwerbsarbeit von Eltern. (Da schimmert sie doch durch, die Weisheit.) In den nächsten Monaten entscheiden nun erst die zuständige Kommission und dann der Ständerat über die Vorlage.
Wichtig scheint mir: Es spielt keine Rolle, ob alle Kitas brauchen. Wer es sich leisten kann, Kinder selbst, gemeinsam in der Nachbarschaft oder in der Grossfamilie zu betreuen – umso schöner. Aber wir richten die Qualität anderer Infrastruktur wie beispielsweise der SBB auch sinnvollerweise an denen aus, die sie täglich dringend zum Pendeln brauchen – nicht an denen, die nur ab und zu auf die Rigi fahren.
Und ich finde: Kinder sind unendlich viel wichtiger als Züge.
Zur Autorin:
Olivia Kühni arbeitet unter anderem für den Frauendachverband alliance F, der sich für die Kita-Vorlage im Ständerat einsetzt. Davor war sie viele Jahre lang Journalistin, zuletzt für die Republik. Sie wurde 2020 und 2021 als Wirtschaftsjournalistin des Jahres ausgezeichnet.
Dieser Gastbeitrag erscheint anlässlich der parlamentarischen Verhandlungen zum sogenannten Kita-Gesetz, offiziell «Überführung der Anstossfinanzierung in eine zeitgemässe Lösung». Der Nationalrat hat der Vorlage im März 2023 zugestimmt, aktuell wird sie in der zuständigen Kommission des Ständerats WBK-S beraten. Danach kommt sie in den Ständerat, voraussichtlich im Oktober.
Weil sie dort zu scheitern droht, hat alliance F diese Woche eine Petition lanciert, die Unterschriften für die Vorlage sammelt.