Natalie, du hast das Inselspital in Bern für deinen entgangenen Lohn eingeklagt. Warum?
Mit 40 Jahren, als ich Mutter geworden bin, wurde mir gekündigt.
Wie bitte?
Ich hatte eine akademische Laufbahn eingeschlagen, mit dem Ziel, Professorin an einer Universität zu werden. Mit einem Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) habe ich ein Postdoctoral Research Fellowship an der Stanford-Universität in Kalifornien absolviert. Nach meiner Rückkehr ans Inselspital wurden mir sehr viele Steine in den Weg gelegt. Während meiner Schwangerschaft wurden alle meine Projekte zurückgestellt und meine Forschungsgelder gesperrt.
Die berüchtigte Mutterschafts-Strafe traf dich schon während der Schwangerschaft?
Ja, und nach der Geburt meines Kindes wurde mir untersagt, weiterhin meine akademische Karriere zu verfolgen. Ich durfte keine Forschung mehr betreiben und keine Student:innen mehr unterrichten.
Auch hatte ich um unbezahlten Urlaub während der Stillphase gebeten. Dieser wurde zuerst abgelehnt. Stattdessen wurde ich als Springerin eingeteilt. Das sind diejenigen, die kein fixes Gebiet haben, sondern immer da einspringen, wo jemand fehlt, auch in der Schichtarbeit. Das ist eine Position, die man mit der Beförderung zur Oberärzt:in erhält, um in verschiedenen Bereichen Erfahrungen zu sammeln. Nach der Geburt meiner Tochter war ich hingegen bereits seit sechs Jahren Oberärztin und kurz vor der Habilitation. Kurzum: Das waren so ungefähr die schlimmsten Arbeitsbedingungen, die ein Arbeitgeber einer voll stillenden Mutter zumuten konnte. Als ich dann um ein Konzept gebeten habe, wie das mit dem Stillen am Arbeitsplatz organisiert werden könnte, wurde mir der unbezahlte Urlaub doch noch bewilligt. In der Folge kam fünf Monate lang nichts und dann die Kündigung.
Wie ging es weiter?
Weil ich nicht mehr forschen und Student:innen unterrichten durfte, habe ich eine Beschwerde wegen Diskriminierung bei der Universität Bern eingereicht. Diese ist verantwortlich für Gleichstellung im Rahmen der akademischen Laufbahn. Nach meinem Forschungsaufenthalt in Stanford stand ich kurz vor der Habilitation. Auch als Mutter müsste ich aufgrund der Schweizer Verfassung und der Reglemente des Inselspitals sowie der Universität Bern meine akademische Karriere weiterverfolgen können. Meine Projekte aus Stanford hätte ich zu diesem Zeitpunkt weiterentwickeln und erneut ein Nationalfonds-Projekt eingeben müssen. Das geht aber nicht, wenn man 100 Prozent in der Klinik eingeteilt ist. Das sind bereits 60 bis 80 Arbeitsstunden pro Woche.
Wurde die Beschwerde gutgeheissen?
Nein, mir wurde gekündigt.
Du hast dich aber nicht nur für dich selbst, sondern für andere junge Mütter und Ärztinnen eingesetzt?
Nach Professorin Marianne Bachofen bin ich erst die zweite Frau, die an der Universität Bern im Fach Anästhesie habilitiert hat. Für viele andere war ich deshalb ein Vorbild. Sie haben sich an mich gewendet und mich um Hilfe gebeten. Schon lange vor meiner Kündigung habe ich mich für Gleichstellung eingesetzt.
Gibt es ein strukturelles Problem?
Ja, ganz klar. Ihr habt das ja auch schon publik gemacht bei elleXX: Es gibt an Schweizer Spitälern nur 8,8 Prozent Chefärztinnen. Stell dir vor: Ich habe im Jahr 2000 mein Staatsexamen gemacht, und wir Frauen waren damals schon in der Überzahl. Würde der Führungskräfte-Anteil den Ausbildungsstand widerspiegeln, müssten wir heute ca. 50 Prozent Chefärztinnen haben. Ich kenne so viele brillante Ärztinnen, die nicht befördert wurden, die nicht Chefärztinnen geworden sind und den Beruf verlassen haben.
Warum wehren sich die betroffenen Frauen nicht?
(Atmet tief ein.) Weil es verdammt schwer ist. Das siehst du ja an meinem Beispiel: gekündigt, Karriere ruiniert und in eine Nische gedrängt. An mir wurde ein Exempel statuiert, damit sich nachher keine mehr wehrt. Das wurde mir im Übrigen auch so kommuniziert.
Wie viel hat dich dieser Rechtsstreit bisher gekostet?
Circa 430’000 Franken.
Lohnt sich das?
Das ist eine schwierige Frage. Finanziell lohnt es sich sicher nicht. Emotional und für unsere Gesellschaft aber ganz klar schon. Jeden Tag geschieht den Frauen im Gesundheitswesen so viel Unrecht. Die internen Strukturen gleichen einer Lobby, welche die Frauen erstickt, deshalb klagt keine. Wenn sich eine Frau entscheidet, juristisch vorzugehen, wird es extrem schwierig und teuer. Für jemanden aus dem Mittelstand ist das kaum finanzierbar.
Wie finanzierst du diesen Rechtsstreit?
Anfangs hatte ich einen professionellen Prozessfinanzierer, dem ich rund 200’000 Franken zurückzahlen musste. Nach der Kündigung durch das Inselspital musste ich erst einmal stempeln gehen. Danach habe ich an einem anderen Spital ganz unten als Assistenzärztin angefangen und mich wieder hochgearbeitet. Mittlerweile habe ich einen Teil des Prozesses gegen das Inselspital gewonnen. Die Kündigung war eine diskriminierende Rachekündigung. Deswegen musste mir das Inselspital die Differenz zwischen meinem Ersatzeinkommen in anderen Spitälern und dem Lohn, den ich am Inselspital gehabt hätte, auszahlen. Von 2014 bis 2018 war das rund eine halbe Million Franken, die ich nicht verdient habe, nur weil ich eine Frau bin. Diese Zahl muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Eine halbe Million weniger Einkommen in vier Jahren, nur weil man eine Frau ist! Über die ausbezahlte Lohndifferenz finanziere ich den Prozess.
Du klagst nun auch wegen Lohndiskriminierung. Das musst du genauer erklären.
Ärzt:innen in einem öffentlichen Spital haben einen kantonal vorgegebenen Grundlohn mit Lohnklassen. Zusätzlich gibt es Privathonorare. Diese generiert man, wenn man Privatpatient:innen behandelt. Die Privathonorare fliessen in einen Pool. Über diese Poolgelder werden Infrastruktur, Forschung, Boni etc. bezahlt. Zudem erhält jeder fertig ausgebildete Arzt bzw. Ärztin einen Anteil an diesen Poolgeldern. Wir haben eine Ungleichbehandlung zugunsten der Männer geltend gemacht. Das wäre eine Lohndiskriminierung. Zudem haben wir geltend gemacht, dass Männer mehr Forschungsgelder und -zeit erhalten haben. Das erleichtert die Karriere enorm. Wer besser und mehr publiziert, kann eher Professor:in werden. Wer dies erreicht, erhält - mindestens als Mann - eine Führungsposition, was in der Folge wiederum mit mehr Lohn verbunden ist.
Wie willst du das beweisen?
Die Verteilung der Poolgelder, inklusive Zusatzzahlungen, und die Leistungen aus dem wissenschaftlichen Fonds sind alles andere als transparent. Sie werden bewusst bedeckt gehalten. Das Gericht hat zwei Gutachten in Auftrag gegeben, die einiges offengelegt haben. Ein Beispiel: Männliche Habilitanden wurden zu 20 Prozent von der klinischen Tätigkeit befreit, um wissenschaftlich tätig zu sein.
Und wie viel war es bei dir?
Null Prozent. Selbst nach meiner Rückkehr aus Stanford kam ich nicht in den Genuss einer 20-prozentigen Freistellung. In meinen Augen ist dies ein klassischer Fall von Beförderungsdiskriminierung mit allen Konsequenzen bis hin zur Lohndiskriminierung. Das ist diese berühmte gläserne Decke. Als Frau kann man sie kaum durchbrechen.
Darum hast du also die letzten acht Jahre mit dem Rechtsstreit verbracht?
Ja leider, darum macht es sonst niemand, es ist eine «never ending story» verbunden mit enorm hohen Kosten.
Was würdest du anderen Frauen raten, die am Arbeitsplatz Ungerechtigkeit erfahren?
Vernetzt euch und wehrt euch gemeinsam! Und immer alles gut dokumentieren.
Hattest du keine Rechtsschutzversicherung?
Ja schon, aber sie hat nicht bezahlt. Der Versicherer behauptete, dass die Diskriminierung schon vor dem Abschluss der Versicherung angefangen habe. Das ist eigentlich korrekt, da die Diskriminierung mit Eintritt ins Berufsleben begonnen hat. Da hatte ich die Versicherung leider noch nicht.
Was würdest du heute anders machen?
Nicht viel. Diskriminierung ist inakzeptabel, Gleichstellung ein Verfassungsgrundsatz. Zudem würde ich direkt mit dem Einstieg ins Berufsleben eine Rechtsschutzversicherung abschliessen.
Du kämpfst für dein Geld. Wie ist es für dich, dich mit dem Thema zu exponieren?
(Holt tief Luft.) Es ist unangenehm, aber auch enorm wichtig, weil ich kein Einzelfall bin. Es ist ein Systemproblem. Stell dir vor: Ich wurde mit 40 Jahren aus meiner Karriere herausgedrängt. Das hat mich in den folgenden vier Jahren eine halbe Million Franken gekostet.
Wir haben den Schaden aber auch für die Zukunft errechnet. Durch die Diskriminierung in Forschung und Lehre, die Kündigung und die Freistellung nach dem Urteil des Obergerichts des Kantons Bern wurden mir 25 Jahre Entwicklung in meinem Beruf genommen. Wenn das Einkommen, das ich noch generieren kann, vom Einkommen, das ich mit einer akademischen Karriere generiert hätte, abgezogen wird, entsteht ein Schaden von fünf Millionen Franken. Seit meiner Kündigung 2014 kann ich weder in der Forschung noch in der Lehre arbeiten. Dadurch entsteht auch ein volkswirtschaftlicher Schaden: Meine Ausbildung in Forschung und Lehre wird nun durch das Ausscheiden aus der Akademie nicht genutzt, obwohl die Allgemeinheit das finanziert hat. Als hochqualifizierte Fachkraft entstand bei mir ein sehr hoher Schaden. Aber letztlich entsteht jeder Frau, die aus ihrem Job herausgedrängt wird, ein hoher Verlust an Einkommen. Dazu kommt ein riesiger Rentenschaden; dieser beläuft sich bei mir auf fast eine Million Franken. Weil dieses Alterskapital dann fehlt, rutschen viele Frauen in die Altersarmut ab. Das muss sich ändern.
Was ist nun mit deiner Karriere? Ist die im Eimer?
Ich habe aus dem Scherbenhaufen das Beste herausgeholt, was ich konnte. Heute habe ich wieder eine Kaderposition in einem ländlichen Spital, das ist okay, aber das ist nicht die Position, die ich mit meiner Ausbildung hätte erreichen sollen.
Ist denn dieses Gleichstellungsgesetz nicht einfach ein Papiertiger? Wenn man sich wehrt, verliert frau den Job.
Bei mir wurde ja festgestellt, dass es eine Rachekündigung war, und das Gericht verfügte meine Wiedereinstellung. Das Inselspital setzte aber das Urteil nicht um und stellte mich sofort frei. Der Gesetzgeber hat eigentlich die richtige Absicht, mit der Umsetzung hapert es noch.
Kann man denn zurückkehren in ein völlig zerrüttetes Arbeitsverhältnis?
Das Arbeitsverhältnis war nicht zerrüttet, das Gleichstellungsgesetz wurde vom Arbeitgeber nicht eingehalten. In so einem Fall sollte die Rückkehr an den Arbeitsplatz, wie vom Gesetzgeber vorgesehen, kein Problem sein. Ich wäre zurückgegangen. Ich bin im Recht! Aber der Betrieb hätte jene Personen sanktionieren müssen, die sich diskriminierend verhalten haben. Aber Diskriminierung ist immer noch ein Kavaliersdelikt. Dabei steht in unserer Verfassung, dass kein Mensch diskriminiert werden darf.
Geld ist für mich ...
Ein notwendiges Übel! Man braucht es für den Zugang zur Justiz, aber man kann auch viel Gutes tun damit.
Wie investierst Du?
Ich habe geplant, mit elleXX zu investieren. Im Januar sehe ich eine Vermögensexpertin, und diese wird mir einen Vorschlag machen. Aufgrund der Kündigung habe ich erst seit Mai 2019 wieder einen festen Job mit einem guten Lohn – jetzt kann ich mir das mit dem Investieren überlegen. Aber ich vermute, dass es jetzt zu spät ist?
Nein, du kannst immer anfangen! Jetzt ist immer der beste Zeitpunkt.
Wofür sparst du?
Für meinen Prozess.
Hattest du denn private Spender bis jetzt?
Geld habe ich bisher keins erhalten. Unterstützt wurde ich aber in anderer Form. Ich bin auch weiterhin dankbar für jede Form von Unterstützung. Vernetzung ist sicher sehr hilfreich. Dieser Fall ist ein Beispielfall für die systematische Diskriminierung der Frauen, und er muss nun zu Ende geführt werden. Alle, die sich für Gleichstellung einsetzen möchten, dürfen sich gerne bei mir melden.
Jetzt hast du eine Organisation mitgegründet?
Ja, sie heisst StrukturELLE! Wir setzen uns für Gleichstellung, Good Governance und transparente Strukturen ein. Vernetzung ist eines der wichtigsten Instrumente. Ich möchte andere unterstützen und gleichzeitig meinen Prozess vorantreiben. StrukturELLE möchte Frauen mittels Verbandsklagen unterstützen und sammelt Spenden dafür. In Zukunft sollten nicht mehr Einzelpersonen klagen müssen, sondern Verbände. Der Zugang zur Justiz ist für den Mittelstand in der Schweiz aufgrund des hohen finanziellen Aufwandes quasi verbaut.