Man stelle sich eine Welt vor, in der wir Taxifahrer:innen freundlich auf die Schulter klopfen, anstatt den Fahrpreis zu begleichen. Eine Welt, in der Aktionär:innen keine Dividenden erhalten sondern Blumensträusse, und wir im Supermarkt anstatt der Kreditkarte bloss unser freundlichstes Lächeln zu zücken brauchen. Klingt absurd? Ist es auch. Und dennoch scheint es in der Schweiz ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, für das Allerwichtigste im Leben mehr zu berappen als einen feuchten Händedruck: für die Gesundheit.
Es scheint in der Schweiz ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, für das Allerwichtigste im Leben mehr zu berappen als einen feuchten Händedruck: für die Gesundheit.
Erinnert ihr euch an den ersten Lockdown im März 2020, als wir alle gemeinsam auf unseren Balkonen standen und den schier übermenschlichen Leistungen applaudiert haben, die unser Gesundheitspersonal aufgrund von Covid-19 erbrachte? Das war schampar schaurig nett von uns, klar, leider ist es aber bei Applaus geblieben. Während viele europäische Länder - nebst Italien, Frankreich, Deutschland und Österreich zum Beispiel auch Litauen oder Griechenland - ihren Pflegefachkräften einen Corona-Bonus auszahlen, muss hier ein Applaus reichen. Eine Freundin von mir, die in der Pflege arbeitet, erhielt mitsamt all ihren Kolleg:innen von ihrem Arbeitgeber zusätzlich ein Desinfektionsmittel im Designer-Glasfläschli geschenkt. Unnötig zu sagen, dass sich dies viel eher nach einem Schlag ins Gesicht anfühlte als nach einer Anerkennung für geleistete Arbeit.
Geschichten wie diese zeigen eindrücklich die Gründe dafür auf, warum die Ausbildung zur Pflegefachkraft in der Schweiz immer weniger Zulauf findet - insbesondere, wenn man sich gleichzeitig die branchenüblichen Löhne vor Augen führt: Der mittlere Bruttojahreslohn einer Pfleger:in inklusive Boni und 13. Monatslohn beträgt in der Schweiz gerade mal 79’000 Franken. Das sind netto nicht ganz 5000 Franken monatlich.
Man spricht bereits von einem sogenannten “Pflegenotstand”, ringt die Hände und tut sonst: wenig.
Mal ehrlich: Wer entscheidet sich schon freiwillig für einen wahnsinnig anstrengenden Job, der sowohl Nachtschichten als auch Wochenend- und Feiertagsdienst erfordert, anstatt mit Geld aber mit Applaus und Desinfektionsmittel vergütet wird? Eben - niemand. In der Schweiz werden folgerichtig bis 2030 65’000 Pfleger:innen fehlen. Man spricht bereits von einem sogenannten “Pflegenotstand”, ringt die Hände und tut sonst: wenig.
Dabei ist der Fall eigentlich klar: Wenn die Nachfrage auf dem Jobmarkt grösser ist als das Angebot, stärkt das die Anbieter:innen. Sie gewinnen an Verhandlungsmacht, die Löhne steigen, die Konditionen werden besser. In den USA, wo der Markt traditionell stärker und der Sozialstaat schwächer ist als bei uns, ist dies bereits der Fall: Löhne von um die 5000 Franken pro Woche (!!!) für sogenannte “Travelling Nurses”, die da einspringen, wo gerade Bedarf herrscht, sind keine Seltenheit mehr.
Warum schaffen wir es in der Schweiz nicht, für den Erhalt unserer Gesundheit - einen elementar wichtigen, oder moderner: systemrelevanten gesellschaftlichen Dienst - anständige Löhne zu bezahlen?
Darauf gibt es nur eine logische Antwort: Weil die Pflege ein Frauenberuf ist. Was sich auf der Mikroebene “Gender Pay Gap” nennt, lässt sich auf der Makroebene auch in ganzen Branchen beobachten: Wenn Männer in einen Beruf einsteigen, steigt der Durchschnittslohn, so beispielsweise geschehen in der Informatik, die früher von Frauen dominiert war. Umgekehrt sinken die Gehälter in ganzen Berufszweigen, wenn sich diese “feminisieren”, sich also mehr Frauen dafür entscheiden. Studien darüber gibt es viele.
Es kann nicht sein, dass ganze Branchen zu Tieflohn-Sektoren werden, nur weil viele Frauen darin tätig sind.
Das macht mich wütend. Frauen leisten erstens ohnehin bereits den Löwenanteil der Gratisarbeit in diesem Land - Hochrechnungen gehen von 242 Milliarden Franken unbezahlter Frauenarbeit pro Jahr aus. Zweitens werden wir schlechter bezahlt für den gleichen Job. Und wenn drittens dann ganze Branchen zusätzlich zu Tieflohn-Sektoren werden, nur weil viele Frauen darin tätig sind, dann erstaunt es auch nicht mehr, dass die Covid-Pandemie für Frauen sowohl physisch als auch psychisch weniger glimpflich verlief als für Männer. Sie arbeiteten mehr in systemrelevanten Berufen wie beispielsweise der Pflege oder dem Verkauf, steckten sich darum ab dem ersten Lockdown häufiger mit Corona an als Männer, verrichteten einen Grossteil der zusätzlichen Kinderbetreuung und bekamen dafür im schlechtesten Falle gar nichts, im besten ein bisschen Applaus. Dabei hat diese Pandemie schmerzlich deutlich gemacht, wie lebensnotwendig die Arbeit von Frauen - nicht nur in der Pflege, aber auch - für dieses Land und unser aller Wohlergehen ist. Das Wort “systemrelevant” bringt dies auf den Punkt.
Höchste Zeit, dass das System sich endlich erkenntlich zeigt.
Über die Pflegeinitiative wird am 28. November abgestimmt.