Bevor es zu Ende ist, wird klar: 2022 wird als schwarzes Jahr in die Geschichte der Frauenrechte eingehen. Die Tatsache, dass der oberste Gerichtshof der grössten westlichen Demokratie entschieden hat, dass Abtreibungen nicht mehr im ganzen Land erlaubt sein sollen, erschüttert viele von uns nachhaltig. Zur Erinnerung: Neu kann jeder US-Bundesstaat selber entscheiden, welche reproduktiven Rechte er Frauen zugestehen will. Ungewollt schwangere Frauen in konservativen US-Gliedstaaten haben in Zukunft entweder die Wahl, in einen anderen Bundesstaat zu reisen, in dem das Verfahren weiterhin legal ist, sie können Abtreibungspillen online kaufen, oder sie sehen sich schlimmstenfalls gezwungen, eine potenziell gefährliche illegale Abtreibung vorzunehmen.
Inmitten dieser deprimierenden Situation kommt Hilfe aus einer unerwarteten Ecke, nämlich aus der Privatwirtschaft. Verschiedene Unternehmen versprechen, Arbeitnehmerinnen in dieser Notlage zu unterstützen, indem sie ihnen die Kosten für die Umtriebe erstatten – also die Reisekosten, Arztkosten etc. Google bietet seinen Mitarbeitenden gar die Möglichkeit, in Staaten umzuziehen, in denen Abtreibung legal ist.
Gesundheitsleistungen hängen vom Goodwill der Arbeitgeber:innen ab
In der Schweiz wäre das unvorstellbar. Gesundheitsfragen werden bei uns nicht den Arbeitgeber:innen überlassen, sondern durch Krankenkassen abgedeckt. Aber in den USA ist das anders. Unternehmen werden dort vor allem deshalb so aktiv, weil der Staat so schwach ist, zumindest der Sozialstaat. Das bedeutet: Im «Land of the free» hängen viele Leistungen vom Goodwill der Unternehmen ab. Das Gesundheitssystem in den USA wird durch Arbeitgeber:innen finanziert. Private Krankenversicherungen gehören zu den sogenannten «Benefits» eines Arbeitgebenden.
Damit wird ein wichtiger Aspekt der reproduktiven Möglichkeiten von Frauen zu einem Geschenk. Es liegt im Ermessen, oder besser gesagt in der Willkür, der Arbeitgebenden, ob sie dieses Geschenk machen wollen.
Amerikaner:innen scheinen diese Art von generösem Engagement von Unternehmen mittlerweile zu schätzen: Gemäss Umfragen sind Arbeitgeber:innen die einzige Institution, der sie vertrauen, in sozialen Fragen das Richtige zu tun. Mit dem Einsatz für die Rechte der Frau werden US-Unternehmen gleichzeitig auch den stetig steigenden gesellschaftlichen Erwartungen gerecht, die an sie gestellt werden. Von Racial Equality über Klimawandel zu sexueller Gesundheit, überall werden von Unternehmen mittlerweile nicht nur klare Worte, sondern auch Taten erwartet.
Es ist nicht die erste Kontroverse in Sachen Reproduktion
Trotzdem überrascht diese Einhelligkeit zwischen Zivilgesellschaft und Unternehmen. Die gleichen Kreise, die Unternehmen häufig als notorische Ausbeuter und Abzocker charakterisieren, die viel zu wenig für die Gleichstellung der Geschlechter tun, schätzen sie nun als Verbündete im Kampf für die Rechte der Frau. Kann man sich auf diese Allianz verlassen? Setzen sich Unternehmen wirklich aus intrinsischer Überzeugung für das Recht auf Abtreibung ein, oder steckt da unter Umständen strategisches Kalkül dahinter?
Vor ein paar Jahren wurde ein anderes Thema im Zusammenhang mit reproduktiven Rechten populär, das sogenannte Social Freezing. Dabei lassen Frauen unbefruchtete Eizellen aus sozialen Gründen einfrieren. Sie verschieben so ihren Kinderwunsch in die Zukunft; zum Beispiel dann, wenn ein passender Partner fehlt, wenn nicht genügend Geld vorhanden ist, oder wenn die Karriere gerade die volle Aufmerksamkeit verlangt.
Eine heftige Kontroverse entstand in dem Moment, als Facebook und Apple entschieden, ihren Mitarbeiterinnen das Social Freezing zu bezahlen. Den Unternehmen wurde unterstellt, ihr Engagement für die Rechte der Frauen, über ihre Fortpflanzung zu entscheiden, sei nur vorgetäuscht. In Tat und Wahrheit gehe es ihnen nur um Produktivität: Dank Social Freezing würden sie einfach verhindern wollen, dass Angestellte überhaupt schwanger werden und wegen Mutterschaft ausfallen. Damals hiess es, Familienplanung gehe Arbeitgeber:innen nichts an. Wenn überhaupt, sei es ihre Pflicht, familienfreundliche Strukturen zu schaffen, und nicht, Anreize zu setzen, den Kinderwunsch immer weiter zu verschieben, am liebsten auf den St. Nimmerleinstag. Kurz: Man witterte knallharte Business-Interessen hinter den scheinbar emanzipatorischen Massnahmen.
Die Motivation der Unternehmen spielt eine Rolle
Gilt das auch für Abtreibungen? Gut möglich. Auch hier gibt es einen «Business Case»: Angeblich kosten staatliche Abtreibungsbeschränkungen die Volkswirtschaften der US-Bundesstaaten 105 Milliarden Dollar pro Jahr. Der Grund? Sie senken die Erwerbsquote und das Einkommensniveau und erhöhen die Fluktuation und die Fehlzeiten von Frauen. Auch hier könnte man also Böses ahnen und sagen: Letztlich geht es Unternehmen nicht darum, die Selbstbestimmung der Frauen zu fördern, sondern sie möglichst fit und produktiv zu halten. Ganz im Stil der Sicht von Arbeitnehmenden als «Human Resources».
Aber: Macht es einen Unterschied? Spielt die Motivation der Unternehmen überhaupt eine Rolle? Hauptsache, Frauen können weiterhin selbst über ihren Körper entscheiden, könnte man behaupten. Doch ganz so indifferent sollten wir nicht sein. Denn überall dort, wo (scheinbar) moralisch motiviertes Verhalten an Kosten-Nutzen-Überlegungen gebunden ist, wird es verschwinden, sobald es sich nicht mehr auszahlt.
Wir sollten dankbar sein für unser System
Auch wenn wir uns also darüber freuen, wenn einige US-Amerikanerinnen dank der Unterstützung durch ihre Arbeitgeber:innen doch noch über ihren eigenen Körper entscheiden können, sollten wir in erster Linie dankbar dafür sein, dass wir in einem Land leben, wo solche Fragen nicht von Arbeitgebenden entschieden werden. Und auch nicht von einem obersten Gericht, dessen Richter:innen je nach politischer Couleur vom amtierenden Präsidenten einberufen werden. Sondern von einem demokratisch gewählten Parlament oder von der Stimmbevölkerung.
Auch aktuell laufen in der Schweiz wieder Unterschriftensammlungen für zwei Volksinitiativen, die das Recht auf Abtreibung einschränken wollen. Nicht, dass ich mich darüber freuen würde, aber ich habe auch keine Angst davor. 2014 sagten immerhin knapp 70 Prozent Nein zur Initiative «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache». Falls wir wieder gefragt werden sollten: Ich bin sicher, das geht noch deutlicher.