Wie geht es dir? Das interessiert deine Krankenkasse wenig, wenn du kein Geld hast. Nur wer eine teure Zusatzversicherung hat, erhält in der Schweiz garantiert schnell Hilfe bei psychischen Problemen. 2022 soll das ein neues System ändern. Doch es lässt Fragen offen.

Es gibt Menschen, die stehen seit Monaten auf der Warteliste für eine Therapie. Eine von ihnen ist Ilona. Ilona trinkt zu viel. Aus dem gelegentlichen Glas Rotwein ist während des Lockdowns eine Flasche geworden. Der Wein beruhigt sie. Ilona liegt sonst nachts wach, weil sie sich um ihre Arbeit sorgt und sich einsam fühlt. Sie ist geschieden und verdient grad genug zum Leben. Aber nicht genug, um, eine Therapeutin aus dem eigenen Portemonnaie zu bezahlen.

Ilona gibt es so nicht, aber es sind tatsächlich Hunderte von Menschen in der Schweiz, die sich eine schnell verfügbare Psychotherapie nicht leisten können, obwohl sie diese dringend bräuchten. “Bleiben psychische Belastungen unbehandelt, können sie im schlimmsten Fall zum Tod führen”, sagt Yvik Adler, Co-Präsidentin der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP). Etwa jeder dritte Mensch, der psychisch belastet ist, benötigt laut der Psychotherapeutin dringend Hilfe. Ansonsten kann die Erkrankung chronisch werden oder in Suizid oder Gewalt gegen andere enden.

Mehr Auswahl bei den Therapeutinnen

Die mentale Versorgungslücke ist erkannt. Eine neue Krankenkassenregelung soll diese im nächsten Sommer schliessen. Die neue Regelung schafft mehr vergünstigte Therapieplätze und bringt Betroffene schneller mit Psychotherapeuten zusammen. Mit dem sogenannten Anordnungsmodell können neu mehr Ärzte und Ärztinnen eine Psychotherapie verschreiben, beispielsweise Kinderärzt:innen. Bisher war dies Psychiater:innen vorbehalten. Dies bedeutet auch mehr vergünstigte Therapieplätze, weil mehr Psychotherapeuten mehr Patienten kostengünstig behandeln dürfen. Ganz ohne Zusatzversicherung, die nur Wohlhabenden vorbehalten ist

“Das Anordnungsmodell schafft Chancengleichheit im Bereich der psychischen Gesundheit. Gerade sozial schwächere Menschen sind gefährdeter, psychisch zu erkranken. Diese können sich keine Zusatzversicherung für Therapie leisten”, sagt Yvik Adler. Für die Suche nach anerkannten Therapeuten empfiehlt sie Psyfinder. Auf der Onlineseite kann man Therapeutinnen inklusive Fachbereich suchen. Etwa solche mit Erfahrung im Traumabehandlung, Geburtsbereich oder einem Fokus auf die Bedürfnisse von LGBTQ+-Angehörigen.

7 Milliarden fehlen wegen psychischer Erkrankungen

Das Bundesamt für Gesundheit, BAG, geht von über 7 Milliarden Franken jährlich aus, die der Volkswirtschaft wegen psychischer Erkrankungen verloren gehen. Dennoch sind in der Schweiz die Ausgaben für die Behandlung psychischer Krankheiten im europäischen Durchschnitt bisher vergleichsweise niedrig. Besonders wenn man den Wohlstand des Landes bedenkt: Sie machen laut einer Studie des Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) rund 9 Prozent der gesamten Gesundheitskosten aus. In Deutschland sind es gut 11 Prozent, in Großbritannien knapp 14 und in den Niederlanden knapp 21 Prozent.

Rechnerei um Menschenleben


Noch sind sich Expert:innen uneinig, ob das Anordnungsmodell die Gesundheitskosten langfristig einsparen oder diese erhöhen wird. Der Bundesrat rechnet mit 100 Millionen Franken Mehrkosten. Die Krankenkassen rechnen mit Kosten von 250 bis 500 Millionen Franken. Die Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen geht von 240 Millionen Franken Mehrkosten aus. Sie betont jedoch das Sparpotential, welches die bessere psychologische Versorgung der Bevölkerung hätte. 509 Millionen könnten laut einer Studie in der Wirtschaft und bei den Krankenkassen eingespart werden. Teure Psychiatrieaufenthalte könnten präventiv vermieden und die Arbeitslosigkeits- und Sozialhilfequote gesenkt werden.

Es wird wohl eine ganze Generation dauern, bis ersichtlich ist, welche Rechnung aufgeht. Bei der ganzen Rechnerei um Menschenleben gehen die Patient:innen oft vergessen. Für viele Menschen kommt das neue Modell gerade noch rechtzeitig.