Vor kurzem traf ich einen alten Freund zum Essen, den ich schon länger nicht mehr gesehen hatte. Nachdem ich ihm von meinem Burnout erzählt hatte, fragte er mich interessiert aus. Er hatte noch nie eine Therapie gemacht und konnte sich nicht so richtig vorstellen, was in solchen Sitzungen passiert.
«Man redet und analysiert gemeinsam Situationen, Gedanken, Gefühle, die einen beschäftigen. Im besten Fall löst man damit Gedankenprozesse aus, die auch nach der Sitzung noch in dir arbeiten», versuchte ich es in einem Satz zu erklären. Er wollte es jedoch genauer wissen und stellte irgendwann auch die Frage aller Fragen: «Was hat sich in deinem Leben konkret verändert, seitdem du zur Therapie gehst?» – «Frag mich lieber, was sich nicht verändert hat!», sagte ich lachend. «Okay, dann nochmal anders: Wie hast du dich als Mensch verändert?» – «Immer noch ein sehr grosses Fass, das du da aufmachen möchtest», antwortete ich, «alles werde ich dir heute nicht erzählen können, aber ich verrate dir, was bis heute das Eindrücklichste für mich selbst ist. Deal?»
«Deal!»
«Während meiner Therapie bin ich mein Leben quasi rückwärts nochmals abgelaufen. Mithilfe meiner Therapeut:innen habe ich Muster in meinem Verhalten entdeckt, die sich zu wiederholen schienen, ohne dass es mir bewusst war. Fachpersonen erklärten mir, dass die meisten davon schon in der Kindheit in unsere Hirne programmiert werden. Weil unser Gehirn in allen möglichen Situationen bestimmte Verhaltensabläufe abspeichert, die es danach immer wieder abspielt, wenn wir in eine ähnliche Lage geraten. Eigentlich ja smart und effizient, weil wir so nicht immer erst alles durchdenken müssen, um reagieren zu können.
Es führt aber auch dazu, dass wir nicht selten quasi fremdgesteuert agieren, ohne zu überlegen, ob unser Verhalten in der jeweiligen Situation wirklich angebracht ist. Diese Erkenntnis hat mich anfangs ziemlich irritiert und sogar frustriert. Doch die gute Nachricht ist: Wir können uns umprogrammieren. Dafür muss man die Muster aber erst erkennen und dann aktiv an ihrer Auflösung arbeiten.»
«Okay, und wie macht man das?», hakte er nach.
«In meinen Sitzungen haben wir Trigger identifiziert, die bei mir ein bestimmtes Verhalten auslösen, und sind diesen gemeinsam auf den Grund gegangen. Heisst, wir haben analysiert, welche Erfahrungen, Ängste und/oder (unerfüllten) Bedürfnisse darunter liegen. Das war schwierig, weil oft ziemlich schmerzhaft, aber auch sehr hilfreich.»
«Inwiefern?»
«In meinem Kopf formte sich ein Bild von mir als Marionette. Jeder Faden, an dem mein Puppen-Ich aufgehängt ist, steht für einen Trigger, der bestimmte (Bewegungs-)Abläufe bei mir auslöst. Dieses Bild hat sich tief in mein Gedächtnis gebrannt und begleitet mich seitdem. Es hilft mir insofern, dass ich heute in schwierigen Situationen in rund 80 Prozent der Fälle meine Impulse regulieren und erst mal nachdenken kann, bevor ich handle. Ich zapple also nicht mehr einfach fremdgesteuert los.
In den 20 Prozent, in denen ich es nicht schaffe, hilft es mir, mein Verhalten und meine Gefühle hinterher zu reflektieren. Ich frage mich, was genau an meinen Fäden gezogen hat, welches Muster mein Hirn abgespult hat und warum. Ich kann Konflikte dadurch heute viel schneller auflösen, mich wenn nötig einfacher entschuldigen und erklären.»
«Verrätst du mir ein Beispiel?»
«Sicher. Letztens gab es eine Situation mit meinem neuen Partner. Meine Mutter war in der Schweiz zu Besuch, und es wäre mir wichtig gewesen, dass sie sich kennenlernen. Formuliert hatte ich es aber so, dass wir spontan schauen könnten, ob es irgendwie reinpasst. Letztlich kam es nicht dazu, und ich endete in einer negativen Gedankenspirale.
Irgendwann kam mir die Marionette in den Sinn, und mir wurde bewusst, dass sich mein Hirn darin bestätigt fühlte, dass ich mal wieder in einer Beziehung stecke, in der meine Bedürfnisse weniger Gewicht haben als die meines Partners. Das verletzte mich. Ich erkannte aber schnell, dass ich nicht klar kommuniziert hatte, aus Angst, Druck bei ihm aufzubauen, also zu viel zu wollen, zu viel zu fordern, zu viel zu sein. Ein Gefühl, das ich schon aus meiner Kindheit kenne.
Früher hätte ich mich zurückgezogen und geschmollt oder einen Streit vom Zaun gebrochen. Jetzt aber konnte ich meine Gefühle ruhig kommunizieren, woraufhin wir ein sehr liebevolles Gespräch darüber führten, was passiert war. Es war kein Streit, kein Drama nötig. Wir begegneten uns aufgeschlossen, respektvoll und auf Augenhöhe. Und das ist nur ein Beispiel von vielen aus den letzten Monaten, in denen ich diese Erfahrung machen durfte. Deshalb ganz ehrlich: Ich habe mich noch nie ausgeglichener und selbstbestimmter gefühlt als heute und empfinde mein Leben insgesamt als viel harmonischer und entspannter.»
Mein Freund war fasziniert. Wir diskutierten danach noch lange, wie es sich auf unsere Welt auswirken würde, wenn alle Menschen zur Therapie gehen würden. Wir waren uns einig, dass es in einer «durchtherapierten» Gesellschaft insgesamt viel weniger schwerwiegende Konflikte gäbe – im Privaten, im Arbeitskontext, in der Politik – und dass das uns allen zugutekommenkommen würde.
Leider ist das Thema für viele aber immer noch sehr stigmatisiert, und die damit verbundenen Vorurteile wiegen für Männer offenbar noch schwerer: Laut Studien gehen sie viel seltener zur Therapie als Frauen. Verschiedene Untersuchungen ergaben einen Gender Therapy Gap von knapp 30 bis 50 Prozent.
Und dann sind da ja auch noch die Kosten! Ich kenne Menschen, die sich eine Psychotherapie bisher schlicht nicht leisten konnten. Die gute Nachricht: Seit dem 1. Juli 2022 übernimmt die obligatorische Krankenversicherung in der Schweiz die Kosten für eine Psychotherapie, wenn diese von einem Arzt oder einer Ärztin verschrieben wurde. Aber Achtung: Die Franchise, die man für seine Krankenkasse gewählt hat, muss natürlich zuerst abbezahlt werden. Das war bei mir auch so. Für mich war es jedoch die beste Investition meines Lebens.
Herzlichst, Julia
Julia Panknin ist selbstständige Journalistin, Speakerin und Beraterin mit Fokus auf die Themen Parental Burnout und Vereinbarkeit von Kind und Karriere sowie Gründerin von mamibrennt.com. Die Münchnerin lebt seit 15 Jahren in der Nähe des Zürichsees und hat eine kleine Tochter, die sie 50:50 im Wechselmodell mit deren Vater betreut.