In meiner letzten Kolumne habe ich darüber geschrieben, wie sehr die Gewalt am Kap der Guten Hoffnung grassiert – insbesondere diejenige an Frauen. Was mich dabei am meisten beschäftigte, ist, dass HIV in Südafrika eine weibliche Krankheit ist: Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer.
In Europa ist dies anders. Hier gilt HIV als Schwulengeissel und wird von der hetero-normativen Gesellschaft auch genau dort verortet: in der Homo-Schublade. Mein Wissen über das Human Immunodeficiency Virus war auf jeden Fall lange Zeit arg begrenzt – typisch für eine mitteleureuropäische heterosexuelle Frau. Dabei hätte ich allen Grund gehabt, mich differenzierter mit dem Thema zu beschäftigen, auch ohne eine Reise nach Südafrika.
Ich bin ein Kind der 1980er-Jahre. 1984 geboren, habe ich die HIV-Panik der 1990er-Jahre quasi am eigenen Leib erfahren: Als Freddie Mercury 1991 seinen Kampf gegen AIDS verlor, hinterliess das bei mir tiefe Spuren, kleines Queen-Fangirl, das ich war – und heute noch bin.
Damals galt HIV als reine Schwulenkrankheit. Die ersten, Anfang der 1980er-Jahre in den USA dokumentierten Fälle betrafen ausschliesslich junge, gesunde, schwule Männer. Die Krankheit wurde erstmals 1981 unter dem Namen GRID (Gay Related Immuno Deficiency) beschrieben. Wer am Virus erkrankte, war nicht nur mit Sicherheit dem Tod geweiht, sondern litt fortan auch unter dem beinahe religiösen Stigma, das der Krankheit anhaftete. Die Bezeichnung AIDS – kurz für Acquired Immunodeficiency Syndrome – setzte sich erst Monate später durch, als auch Fälle von heterosexuellen Drogensüchtigen und Frauen bekannt wurden.
1994 starb die US-Amerikanerin Elizabeth Glaser. Auch daran kann ich mich lebhaft erinnern: Die HIV-Aktivistin erkrankte nach einer kontaminierten Bluttransfusion, die sie bei der Geburt ihres Kindes erhielt, an AIDS und verstarb 1994 – einige Jahre nach ihrer (ebenfalls infizierten) Tochter Ariel.
Und auch in meiner Kinderstube hielt die HIV-Panik Anfang der 1990er-Jahre Einzug: 1993 bestätigte die «Look-back-Studie» des Schweizerischen Roten Kreuzes, dass bis Ende der 1980er-Jahre Blutspenden nicht routinemässig auf das HI-Virus untersucht wurden. 80 bis 90 Personen wurden so infiziert – darunter auch Frauen, die nach einer Entbindung eine Bluttransfusion benötigten. Dazu gehörte auch meine Mutter, die (so glaube ich, mich zu erinnern) sowohl nach meiner als auch nach der Geburt meines Bruders eine Bluttransfusion erhielt. Ihre Angst, sich dabei möglicherweise mit HIV angesteckt zu haben, hing wie ein dunkles Tuch wochenlang über unserem Leben. Ich litt nach der Geburt meines Bruders unter Atemnot, Panikattacken, konnte nicht mehr einschlafen in dieser Zeit. Und: Ich begann wieder zu stottern – eine Eigenart, die ich Jahre zuvor eigentlich abgelegt hatte. Die Möglichkeit, meine Mutter an diese lautlose, schambehaftete Seuche zu verlieren, die Menschen dahinraffte wie Fliegen und über die man nicht sprechen durfte, machte mich sprachlos vor Angst.
Fast Forward. Wir schreiben das Jahr 2021 und Klein-Rosanna ist gar nicht mehr so klein, sondern schon 36 Jahre alt. Soeben ist sie mal wieder eine Liebesbeziehung zu einem Mann eingegangen – eine Beziehung, die zwar nur einige Monate hält, sie aber mehr prägen wird als jede Beziehung zuvor.
Es ist die Beziehung zu einem Mann, der zu diesem Zeitpunkt 42 Jahre alt ist und sich selbst ganz eindeutig als schwul definiert. Wie es dazu kam, dass Christoph – so heisst er – sich in mich und ich mich in Christoph verliebte, ist eine andere Geschichte, die ihre eigene Kolumne verdient. Fakt ist: Es passierte, und damit ging ein ganz eigenes, für uns beide neues Set von Problemen einher.
Das Augenfälligste: Christoph schlief zum ersten Mal in seinem Leben mit einer Frau. Weniger augenfällig: Ich hatte regelmässigen, ungeschützen Sex mit einem HIV-positiven Mann. Ja, ungeschützt. Und bevor ihr jetzt alle vor Schreck vom Stuhl fallt: Deswegen habe ich mich noch lange nicht angesteckt. Dass wir alle – auch ich, bevor ich mich intensiver mit dem Thema beschäftigte – intuitiv denken, ungeschützter Sex mit einer HIV-positiven Person hätte notgedrungen eine Ansteckung zur Folge, hat nämlich nichts mit medizinischen Fakten zu tun.
Tatsache ist: Menschen, die erfolgreich gegen HIV therapiert sind, können das Virus nicht übertragen – auch nicht beim Sex ohne Kondom. Die Virenlast im Körper wird durch moderne HIV-Medikamente derart verringert, dass die entsprechenden Patient:innen bei Tests als negativ durchgehen und das Virus nicht mehr übertragen können.
Dies ist keine neue Erkenntnis, im Gegenteil: Bereits 2008 veröffentlichte die Schweizerische Ärztezeitung das sogenannte Swiss Statement, das eben dies konstatierte. Absender waren kredible Institutionen wie etwa die Eidgenössische Kommission für sexuelle Gesundheit und die Fachkommission Klinik und Therapie des Bundesamtes für Gesundheit. Dennoch verursachte das Statement einigen Wirbel: Obwohl es auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierte – medizinischen wie statistischen – wurde es als fahrlässig, gefährlich und verfrüht bezeichnet. Ob das tatsächlich so war oder ob diese Reaktionen nicht viel eher in der Angst und den Tabus in Bezug auf AIDS und HIV begründet lagen, kann ich nicht beurteilen. Fakt ist: Die Richtigkeit des Swiss Statement ist seither wieder und wieder bestätigt worden. Richtig medikamentierte Personen, deren Blutwerte regelmässig von Ärzt:innen kontrolliert werden, sind tatsächlich nicht mehr ansteckend.
Dass die allermeisten Menschen – inklusive mir, bis vor Kurzem! – davon nichts wissen, hat meiner Meinung nach vor allem mit der mangelnden Aufklärung von Heterosexuellen in Bezug auf HIV zu tun. Was ich vor meiner Beziehung mit Christoph zum Beispiel auch nicht wusste, ist, dass ein Medikament namens «PrEP» existiert, mit dem man einer Ansteckung vorbeugen kann, zum Beispiel dann, wenn man oft ungeschützen Sex mit wechselnden Partner:innen hat. Alle meine schwulen Freunde wissen darüber Bescheid - im Gegensatz zu uns Heteros. Warum PrEP nicht standardmässig bei der gynäkologischen Jahresuntersuchung ein Thema ist, ist mir ein Rätsel.
Zudem sind HIV und AIDS noch immer ein Tabuthema, was die Aufklärung darüber behindert. Es gibt Länder, die so weit gehen, HIV-positive Migrant:innen zu deportieren – zum Beispiel Jordanien. Anderswo existieren Einreisebeschränkungen, zum Beispiel in China. Wer das Land länger als sechs Monate besucht, muss einen negativen Test vorweisen. Und in die USA durften Menschen mit HIV bis 2010 gar nicht erst einreisen!
Auch hierzulande sind noch immer erschreckend viele Vorurteile im Umlauf. Die Geschichten, die Christoph mir erzählte, waren zum Teil haarsträubend. Lange Zeit fühlte er sich als Aussätziger, als Minderheit der Minderheit. Es gab Menschen, die den Kontakt zu ihm abbrachen, als er ihnen von seiner Infektion berichtete, und viele glauben ihm noch heute nicht, wenn er ihnen vom Swiss Statement erzählt. Er verschweigt darum mittlerweile häufig seine Diagnose. Hier schreibe ich selbstverständlich mit seiner Zustimmung, denn auch er findet: Es ist Zeit, das Thema öffentlich vorurteilsfrei und faktenbasiert zu besprechen.
Ebenso wie Christoph stiess auch ich später auf endlose Vorurteile und Unwissen. Freundinnen fanden mich grob fahrlässig, potenzielle Sexpartner sprangen ab, als ich ihnen von meinem Exfreund erzählte. Und: Ich selber rannte alle naselang zur Gynäkologin, um mich wieder und wieder testen zu lassen, Freddie mahnend im Hinterkopf.
Newsflash: Ich war schon immer und bin immer noch HIV-negativ. De facto ist ein eingestellt-medikamentierter HIV-positiver Mensch ein sehr sicherer Sexpartner: Er kann das Virus schliesslich nicht mehr unwissentlich beim Fremdgehen akquirieren und dann den oder die Partner:in zu Hause damit anstecken – notabene ein sehr häufiger Ansteckungsgrund, gerade für Frauen.
Ich finde es falsch, mit dem Finger auf Länder wie Südafrika zu zeigen und deren oft von Mythen und Aberglauben geprägten Umgang mit HIV zu kritisieren, wie es bei uns so häufig geschieht. Meine Erfahrungen zeigen: Wir machen es auch nicht viel besser.