Persönlichkeit
KnauserigGrosszügig
Sparer:inInvestor:in
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FrankenBitcoin
Hintergrund
Alter:32
Beruf:Freie Journalistin, Autorin, Content Creator
Einkommen:keine Ahnung
Schulden:keine
Grösster Ausgabeposten:Miete, Versicherungen, Klamotten, Essen
Vermögen:keines

Was für Gefühle löst Geld bei dir aus?

Zwei unterschiedliche. Einmal dieses Gefühl, dass ich es geil auf den Kopf hauen, was erleben und schöne Dinge damit tun möchte. Und auf der anderen Seite ein totales Unbehagen, weil ich oft keinen Überblick über mein Geld habe. Ich lebe nicht über meine Verhältnisse. Aber ich denke oft, dass ich mein Geld besser strukturieren und mal was zur Seite legen müsste. Die Mahnungen stapeln sich, weil ich einfach vergesse, Rechnungen zu begleichen.

Kommen wir aufs Thema ADHS. Du klärst im Internet und bei Auftritten über ADHS auf und bist selbst davon betroffen. Inwiefern denkst du, dass ADHS das Geldausgeben beeinflusst?

Stark. Untersuchungen zeigen, dass zwei Drittel der Menschen mit ADHS sagen, dass sie Probleme mit der Verwaltung ihrer Finanzen haben. Menschen mit ADHS leiden doppelt so häufig an Angstzuständen im Zusammenhang mit Geld wie andere Menschen.

Angelina Boerger
Immer in den Momenten, in denen ich das Gefühl habe, ich kriege eine andere Sache nicht geregelt oder ich bin emotional unausgeglichen, shoppe ich.

Wie geben denn Menschen mit ADHS konkret ihr Geld anders aus?

Ich glaube, das grösste Thema sind die impulsiven Ausgaben. Auch bei mir ist es eine Coping-Strategie, spontan viel Geld auszugeben. Immer in den Momenten, in denen ich das Gefühl habe, ich kriege eine andere Sache nicht geregelt oder ich bin emotional unausgeglichen, shoppe ich. Ich fülle online die Warenkörbe oder gehe in die Stadt und kaufe Sachen. Häufig geht es gar nicht darum, diese Dinge zu behalten. Ich tausche oft alles wieder um oder schicke ungeöffnete Pakete zurück.

Weisst du, wie viel dich dein ADHS kostet?

(Lacht.) Also wenn wir das jetzt auf der monetären Ebene sehen, ist das schon einiges. Man spricht ganz generell von ADHD-Taxes, also der ADHS-Steuer. Menschen neigen schnell dazu zu sagen, sie hätten auch schon mal den Schlüssel innen stecken lassen und den Schlüsseldienst holen müssen oder ihre Airpods verloren und neue kaufen müssen. Ich kenne aber Menschen mit ADHS, die innerhalb eines Jahres viermal ihre AirPods verloren haben, und es würde ihnen auch ein fünftes, sechstes, siebtes Mal passieren. Das summiert sich und ist wirklich teuer. Zusätzlich zu den monetären Kosten werden auch emotionale Steuern mit eingerechnet.

Was meinst du damit?

Da geht es darum, was es psychisch und gesundheitlich mit einem macht, wenn man schon von Klein an seine Turnbeutel liegen lässt, Schlüssel verliert oder Autos gegen die Wand setzt … Diese ganzen Dinge, die mit ADHS halt immer passieren. Hinzu kommt die Scham, anderen Menschen schon wieder sagen zu müssen, man habe etwas verloren oder kaputt gemacht.

Du hast vorhin die ADHD-Taxes angesprochen. Inwiefern beeinflussen Neurodivergenzen wie eben ADHS unsere Wirtschaft?

Extrem. In Australien gab es eine grosse Studie, die untersuchte, welche Kosten verursacht durch ADHS auf Australien zukommen. Die Studie kommt auf die schwindelerregende Summe von 12.76 Milliarden US-Dollar pro Jahr, die durch ADHS verursacht wird. Da sind Faktoren mit einberechnet wie Gesundheitskosten, Arbeitsausfälle, Krankmeldungen, Erwerbsausfälle von Eltern für Betreuung, niedrigere Bildungsabschlüsse, schwierige Einstiege in den Arbeitsmarkt, Unfälle, frühe Schwangerschaften und Frühpensionierung. Und das ist schon eine ordentliche Summe, nur für Australien. Und nur für ADHS. Wenn man das mal auf die ganze Welt umrechnet und alle Neurodivergenzen mit einbezieht, will ich gar nicht wissen, was da für eine Zahl entsteht.

Krass. Inwiefern ist unser Wirtschaftssystem auf Menschen mit Neurodivergenzen ausgelegt – oder eben nicht?

Überhaupt nicht. Es mag einzelne Unternehmen geben, die Vorreiter:innen sind, aber im Grossen und Ganzen überhaupt nicht. Das Problem ist, dass trotz der Aufklärungsarbeit und der steigenden Diagnosezahlen immer noch sehr viele Vorurteile über ADHS vorhanden sind und wir einen sehr defizitären Blick darauf haben. Und das von Anfang an.

Was meinst du damit konkret?

Kinder mit ADHS bekommen bereits im Schulalltag gesagt, dass ihr Verhalten aus der Reihe fällt. Oder eben dieses Überangepasste, dass eine Person es eigentlich kann, aber irgendwie immer verträumt, verpeilt und unter den Erwartungen bleibt. Das macht im Laufe der Jahre natürlich etwas mit einem Menschen. Wenn wir da ansetzen und verstehen würden, welche Potenziale darin liegen, dass Gehirne eben vielfältig sind und unterschiedlich funktionieren, dann wäre das eine unglaubliche Bereicherung für die Gesellschaft und die Wirtschaft.

Angelina Boerger
Wir sprechen von einer grossen Zahl von Menschen weltweit, die neurodivergent sind. Das muss mitgedacht werden, und zwar in allen Lebenslagen.

Hast du Ideen, wie man das konkret umsetzen könnte?

Ich glaube, dass wir uns gerade in einem langwierigen Prozess der Sensibilisierung befinden, der aber bitter nötig ist. Es wird erstmal wirklich über dieses Thema aufgeklärt und die Tragweite klargemacht. Wir sprechen von einer grossen Zahl von Menschen weltweit, die neurodivergent sind. Das muss mitgedacht werden, und zwar in allen Lebenslagen. Unglaublich viel geht schon über das Empowerment, also sich selbst zu sagen: Ich bin nicht falsch, ich bin nicht kaputt, sondern ich ticke halt anders. Ich habe einen anderen Rhythmus, ich habe andere Bedürfnisse und das ist völlig in Ordnung. Wir sind acht, bald neun Milliarden Menschen, die alle ein Unikat sind, und jede und jeder von uns funktioniert ein bisschen anders. Das ist bereichernd und geht natürlich mit gewissen Bedürfnissen einher. Wenn man anfängt, diese Dinge mitzudenken und auf die Chancen zu fokussieren, entstehen ganz tolle Sachen, die auch für nicht-neurodivergente Menschen einen Vorteil bieten können.

Angelina Boerger
Ein Gefühl von Sicherheit und Kontinuität im Beruflichen und Finanziellen habe ich noch nie empfunden. Ich brauche Abwechslung und Ungewissheit, um meine Kreativität ausleben zu können.

Du hast ein Buch über ADHS im Erwachsenenalter geschrieben, das ein Bestseller wurde. Heute trittst du häufig auf und bist auf Social Media sehr aktiv. Was sind deine Einnahmequellen als Selbstständige? Irgendwie muss man ja den ganzen Content finanzieren.

Mein Content auf Social Media ist momentan ausschliesslich kostenfrei. Ich finanziere mich grösstenteils über Veranstaltungen in Unternehmen im medizinischen Kontext, auf meiner Lesetour und mit meinem Bühnenprogramm, welches ab April startet. Das sind meine Einnahmequellen. Ein Gefühl von Sicherheit und Kontinuität im Beruflichen und Finanziellen habe ich noch nie empfunden. Ich brauche Abwechslung und Ungewissheit, um meine Kreativität ausleben zu können.

Wie gehst du mit diesem unregelmässigen Einkommen um? Stresst dich Geld manchmal?

Mich stresst, dass es mir schwer fällt, die Steuererklärung regelmässig zu machen, irgendwo Dinge hinzuschicken, meine Sachen abzuheften und meine Rechnungen zu bezahlen. Aber nein, stressen tut mich mein unregelmässiges Einkommen oder Geld überhaupt nicht. Ich glaube, es regt mich sogar an, dass ich immer an die nächste Challenge und die nächste Aufgabe denke.

Weisst du, wie viel du verdienst?

Ich habe überhaupt keine Ahnung. Geld ist mir nicht wichtig. Wenn ich es habe, dann gebe ich es gerne aus. Wenn es nicht da ist, ist es auch okay, dann kommt man auch irgendwie über die Runden. Ich kann keine richtigen Angaben machen, weil es so schwankt.

Sparst du für etwas?

(Lacht.) Also, ich nehme mir seit drei Jahren vor, mich um ETFs zu kümmern und etwas fürs Alter zu tun, weil mir bewusst ist, dass Altersarmut bei Frauen ein sehr grosses Thema ist. Ich hoffe immer darauf, dass ich mich irgendwann dessen annehmen werde. Auf etwas Konkretes spare ich nicht. Ich versuche immer, mir neben Alltag und Beruf Freiräume zu schaffen, in denen ich reisen kann. Ich kann von überall aus arbeiten. Bisher habe ich das noch nicht wirklich genutzt, aber es ist mein Plan, eine Workation zu machen. So etwas ist mir wichtiger als materielle Dinge. Ich habe alles, was ich brauche.

Was bedeutet Luxus für dich?

Luxus … (Denkt nach.) Luxus bedeutet für mich, nicht aufs Geld schauen zu müssen. Ich hatte nie viel Geld und musste immer schon neben der Schule arbeiten. Ich konnte kein Semester Pause machen oder eine Klausur verhauen, weil ich ansonsten aus finanziellen Gründen mein Studium nicht hätte machen können. Als ich meinen ersten richtigen Job als Journalistin angefangen hatte, bin ich in ein Elektronikgeschäft gegangen und habe mir meinen ersten teuren Laptop selbst gekauft für 2’200 oder 2’400 Euro. Beim Verlassen des Geschäfts bin ich in Tränen ausgebrochen. Ich hatte fast eine Panikattacke, weil ich noch nie eine solche Summe ausgegeben hatte. Ich hatte Angst, dass es für mich den finanziellen Ruin bedeutet. Meine Begleitung beruhigte mich, dass ich den Laptop für die Arbeit bräuchte, das Geld selbst verdient und zusammengespart hätte. In diesem Moment machte es Klick. Luxus ist für mich, das Leben leben zu können, essen zu gehen, mit Freunden draussen zu sein und sich auch mal ohne Sorge etwas zu gönnen. Es muss überhaupt nicht das Teuerste vom Teuersten sein.

Du hast darüber gesprochen, wie du aufgewachsen bist. Wer hat bei dir zu Hause über Geld gesprochen?

Niemand, weil nie das grosse Geld da war. Ich hatte das Glück, dass meine Grosseltern mir immer mal wieder einen 20-Euro-Schein zugesteckt haben und dass sie meine Mutter, die alleinerziehend war, finanziell unterstützt haben. Kein Keyboard-Unterricht, kein neuer Schulranzen und keine Ferien wären ohne diese beiden tollen Menschen möglich gewesen. Ich dachte immer, dass wir der Mittelschicht angehören würden. Bis ich irgendwann mal gelesen habe, ab welchem Gehalt man da dazu zählt. Da merkte ich, dass wir weit von der Mittelschicht entfernt waren. Aber das Schöne ist, es hat sich trotzdem immer so angefühlt, als fehlte es uns an nichts. Meine Mama hat einen ganz tollen Job gemacht. Dann gab es halt die Miss-Sixty-Jeans zu Weihnachten, und man hat sich 364 Tage darauf gefreut.

Das klingt schön, wie du deine Mutter und deine Grosseltern beschreibst. Sprichst du offen über Geld, auch in Frauenrunden?

Ja! Ich spreche ganz offen darüber, auch über Verhandeln und solche Dinge, bei denen ich überhaupt kein Profi bin, aber in denen ich schon meine ein, zwei schlechten Erfahrungen gemacht habe. Ich denke, dass es schön wäre, wenn wir alle offener darüber sprechen würden. Deswegen mache ich das auch. Wieso soll sich jeder und jede durch den gleichen Weg durchs Dickicht kämpfen, wenn andere schon den Trampelpfad platt gemacht haben?

Angelina Boerger
Mein Leben ist tagtäglich ein Struggle. Ich komme jeden Tag an meine Grenzen und zweifle an mir.

In deinem Buch sprichst du von einer «artgerechten Haltung» für Menschen mit ADHS. Ich habe den Eindruck, du hast dir dein Leben für dich passend eingerichtet. Hast du zum Abschluss Tipps für Mädchen und Frauen mit ADHS, wie sie das auch schaffen können? Gibt es Strategien, die dir dabei geholfen haben?

Ich weiss, dass es nach aussen immer ein bisschen so wirkt, als hätte ich mein Leben im Griff. Da bin ich die erfolgreiche Journalistin und Buchautorin, die ihr Leben lebt. Ich bin unglaublich dankbar für diese Möglichkeit und für diese Privilegien, über die ich verfüge und die ich mir erarbeitet habe. Aber: Mein Leben ist tagtäglich ein Struggle. Ich komme jeden Tag an meine Grenzen und zweifle an mir. Man sollte so weit wie möglich versuchen, sich selbst zu sein und sich nicht von anderen beeinflussen zu lassen, auch wenn das natürlich im Alltag schwerfällt und immer eine Utopie sein wird. Ich denke, es geht um das Streben danach, ohne sich Druck zu machen, dass alles klappen und funktionieren muss. Das Leben ist da, um gelebt zu werden. Wir müssen lernen, dass wir Fehler machen und uns immer wieder neu erfinden dürfen. Das gehört zum Leben.

Angelina Boerger kommt auf ihrer Tour in die Schweiz. Sie tritt am Montag, 6. Mai 2024 um 20 Uhr im Volkshaus Zürich auf.