Vor einiger Zeit ist meine Mutter aus der Wohnung ausgezogen, in der ich aufgewachsen bin. Nach 30 Jahren im Zürcher Niederdorf beschloss sie, der Stadt den Rücken zu kehren und mit meinem Bruder ins Weinland zu ziehen. Kein leichtes Unterfangen, mussten im Vorfeld doch Grümpel, Krimskrams und Überbleibsel von Jahrzehnten gesichtet und entsorgt werden.
Gute Tochter, die ich bin, bot ich natürlich meine Hilfe an – und fand mich unversehens in einer Zeitmaschine wieder, die mich 30 Jahre zurück in die Vergangenheit katapultierte. Und wie ich da so sass, auf dem staubigen Dachboden meiner Mutter, und in den Memorabilien meiner Kindheit wühlte, tauchte aus den oft schlammig-undurchsichtigen Wogen meiner Erinnerung eine Frage auf, die mich unterbewusst wohl schon länger beschäftigte: Wie ist es möglich, dass nie jemand verstand, was mit mir los war? Warum zum Teufel fand bei Klein-Rosanna keine ADHS-Abklärung statt?
Die Gründe dafür sind 1. persönlich und 2. profan
- Ich habe einen kleinen Bruder, der viel verhaltensauffälliger ist als ich. Der aufmerksamen Leserin dürfte nicht entgangen sein, dass er mit meiner Mutter ins Weinland umsiedelte, trotz seiner 36 Jahre. Er leidet unter einer Autismus-Spektrums-Störung, welche bereits im Kindesalter bei ihm diagnostiziert wurde. Dies führte dazu, dass ich trotz meiner Besonderheiten als das «normale» Kind der Familie galt und entsprechend oft viel weniger Aufmerksamkeit erhielt.
- Ich bin ein Mädchen, in meiner Familie und in der Welt. Und bei Mädchen wird ADHS (wie übrigens auch Autismus!) viel seltener erkannt als bei Buben.
Wie an so vielen Orten in der Medizin gilt auch punkto ADHS: Das männliche Geschlecht ist die Regel, das weibliche die Ausnahme. Man geht zwar davon aus, dass das Syndrom bei Mädchen und Jungs gleich häufig vorkommt, diagnostiziert werden jedoch drei mal mehr männliche Patienten als weibliche. Immerhin ein Fortschritt, denn vor einigen Jahren ging man noch von einer Prävalenz von 10:1 aus.
Das liegt – Überraschung! – wohl zu grossen Teilen daran, dass jahrzehntelang fast ausschliesslich Buben mit dem klassischen «Zappelphilipp-Syndrom» für Tests und Studien aufgeboten wurden. Als ausschlaggebende Kriterien galten Hyperaktivität und Impulsivität – Symptome, die hauptsächlich bei Jungs vorkommen.
Bei Mädchen sind Probleme mit der Aufmerksamkeit weitaus häufiger – also das sogenannte Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, kurz ADS, ohne das H für Hyperaktivität. Und auch wenn das bei mir nicht ganz der Fall war – meine Lehrerin in der ersten Klasse nannte mich «Zappel-Philippa» – war auch bei mir das Symptom der mangelnden Aufmerksamkeit das stärkste; ein Sachverhalt, den mir die Schreibhefte auf dem Estrich meiner Mutter ungeschönt vor Augen führten: Von einer ganzen A4-Seite, die wir damals mit dem Buchstaben «A» hätten füllen sollten (oder «B» oder «C») schaffte ich jeweils höchstens eine Zeile, manchmal sogar nur einen einzelnen, kraxeligen Buchstaben. Und dies Woche um Woche um Woche. Ich habe nie Schnürlischrift gelernt, und mir leuchtet heute noch nicht ein, warum ich das überhaupt hätte sollen. Redundanz ist für mich Langeweile. Und diese wiederum ist für mich (und für die meisten Frauen mit ADHS oder ADS) die Erzfeindin der Aufmerksamkeit.
In der Schule fühlte ich mich viele Jahre chronisch unterstimuliert – und verlor darum beinahe das Interesse an der ganzen Institution der Bildung. Erst mit dem Wechsel ins Gymnasium blühte ich auf – was nicht nur daran lag, dass ich mich endlich (zumindest teilweise) für den Schulstoff begeistern konnte, sondern auch daran, dass ich endlich ein effizientes Mittel gefunden hatte, mich selber ruhig zu stellen: Ich begann zu hungern.
Auch dieses Verhalten ist typisch für Mädchen mit ADHS, erfuhr ich in der Therapie, als ich mit Mitte zwanzig endlich richtig diagnostiziert wurde. Viele von uns entwickeln selbstzerstörerische Tendenzen. Dies liegt einerseits daran, dass wir mit unserem Problem allein gelassen werden, wenn man es nicht richtig erkennt und behandelt. Andererseits tendieren Mädchen generell viel mehr dazu, negative Gefühle gegen sich selber zu kehren, zu internalisieren, während Jungs sie eher nach aussen tragen und z.B. anfangen, ein aggressives Verhalten an den Tag zu legen.
Essstörungen sind besonders typisch für Mädchen und Frauen mit ADHS, sagt Psychiaterin Ursula Davatz, Spezialistin für als ADHS und Vizepräsidentin von adhs20+, der Schweizerischen Info- und Beratungsstelle für Erwachsene mit ADHS-Diagnose. Sie stelle einen Versuch dar, die übersprudelnde körperliche Energie, die innerliche Unruhe, zum Stillstand zu bringen.
In meinem Fall gelang das zwar durchaus, dafür kam ich die nächsten zehn Jahre nicht mehr von meiner neu erworbenen Sucht los. Und auch heute fällt es mir noch schwerer als anderen, gewisse Verhaltensweisen nicht ins Problematische kippen zu lassen. Ich bin exzessiver und weitaus suchtgefährdeter als «normale» Menschen und muss mich zum Beispiel ständig bemühen, meinen Alkoholkonsum nicht aus dem Ruder laufen zu lassen.
Menschen mit ADS oder ADHS haben weniger «eingebaute» Filtermechanismen im Kopf. Sie nehmen darum ihre Umwelt zwar vollständiger und vernetzter wahr als ihre «normalen» Mitmenschen, müssen aber auch mit einer grösseren Menge an Daten zurechtkommen. Dass sie darum häufiger zu künstlichen Mitteln wie z.B. Alkohol, Drogen oder eben einer Essstörung greifen, um diese Datenmenge zu reduzieren, macht irgendwie Sinn. Auch sind sie anfälliger auf gewisse psychische Krankheiten wie Schizophrenie oder das Borderline-Syndrom. Daran würden wohl viele von uns verzweifeln, hätte die «Krankheit» nicht auch ihre Sonnenseiten.
Ursula Davatz definiert sie als einen von mehreren neurobiologischen Typen, die in der Menschheit vorkommen – und diesem Typ anzugehören, hat nicht nur Nachteile. Ich bin kreativer, begeisterungsfähiger, spontaner, durchlässiger für meine Umwelt und häufig auch feinfühliger als die meisten Menschen, die ich kenne – auch dies typische Eigenschaften von Menschen mit ADHS. Ich kann schneller und vernetzter denken als andere und verfüge, wenn ich es schaffe, mich richtig zu kanalisieren, über schier unerschöpfliche Energiereserven. All dies sind Eigenschaften, die ich an mir liebe. Sie sind ausserdem der Grund dafür, warum ich nicht medikamentiert bin. Ritalin mittet bei mir alles ein – die schönen wie die schlechten Seiten. Ich habe es versucht und lass es lieber sein, auch wenn mein ADHS ungewöhnlich stark ausgeprägt ist und mich manchmal immer noch behindert.
Im initialen Test, den meine Therapeutin damals als erstes mit mir durchführte, kam ich auf eine Punktzahl von 36. Das Maximum sind 42, der Schwellenwert, ab dem man eine ADHS-Abklärung in Betracht ziehen sollte, liegt bei 20. Eine frühe Diagnose hätte mein Leben ungemein vereinfacht, und ich werde nie verstehen, warum niemand sah, was so völlig offenkundig zu Tage lag: Ich habe ADHS. Das ist okay – aber es hilft, wenn frau es weiss.