Du bist schwanger. Weil die Geburt bevorsteht, bist du vielleicht ein wenig angespannt. Überraschend setzen die Wehen ein. Du bist allein. Du erwachst im Spital. Mit Handschellen an den Füssen. Man teilt dir mit, dass dein Baby tot ist. Später wirst du zu 30 Jahren Haft verurteilt. Für Mord. Dein Name ist Teodora Vásquez.Du lebst in El Salvador.
In El Salvador sind Schwangerschaftsabbrüche in allen Fällen verboten. Erleidet eine Frau eine Fehl- oder Totgeburt, wird sie der Abtreibung verdächtigt. Die Folge: jahrzehntelange Gefängnisstrafen.
Die Schweiz-Salvadorianerin Celina Escher hörte während ihres Dokumentarfilmstudiums von den 17 Frauen, die aufgrund solcher Vorfälle im Frauengefängnis Ilopango sassen. Sie entschied, einen Film über sie und die Frauenrechtssituation in El Salvador zu drehen. «Fly So Far» erschien 2022, nach fünf Jahren Arbeit. Morgen Mittwoch wird er anlässlich des Human Rights Days im Kino RiffRaff in Zürich gezeigt.
Am Ende des Films wird Teodora Vásquez nach zehn Jahren in Ilopango dank der unermüdlichen Arbeit von Anwält:innen, Frauen- und Menschenrechtsorganisationen freigelassen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer in einem Land, in dem noch heute viele Frauen für gynäkologische Komplikationen kriminalisiert werden. Manche sagen, im momentanen politischen Klima, mehr denn je.
Celina Escher, wie erhält man eine Dreherlaubnis in einem Frauengefängnis in El Salvador?
Mit viel Geduld. Ich musste immer zwei bis drei Wochen auf eine Erlaubnis warten und durfte dann jeweils nur zwei Stunden lang drehen. Ich musste das Gefängnis deswegen sehr oft besuchen. In die Schlafsäle durfte ich erst nach zwei Jahren. Das Projekt hat sich entsprechend hingezogen: Wir haben fünf Jahre lang gefilmt.
Im Film sieht man, wie Teodora Vásquez zunächst nicht freigelassen wird, obwohl das alle erwarteten – und dann zwei Monate später doch. Dieses Auf und Ab ist schon als Zuschauerin aufreibend.
Ich hatte viele Krisen, natürlich. Aber ich dachte immer: Wenn diese Frauen so stark sind, dies zu überleben, muss ich stark genug sein, den Film zu machen. Sie haben mich motiviert. Ich habe das Privileg, draussen zu sein und über meinen Körper selbst zu entscheiden, also muss ich dieses Privileg nutzen. Ich versuchte, ihnen bei jedem Besuch auch Hoffnung zu geben.
Die Dreharbeiten dauerten mehrere Jahre. Die politische Situation in El Salvador hat sich in der Zwischenzeit verschärft. Wäre der Film heute noch so möglich?
Nein. Ich würde auf keinen Fall mehr eine Dreherlaubnis bekommen. Die Frauen dürfen heute nicht einmal mehr besucht werden – weder von ihren Familien noch von Psycholog:innen. Nur die Kirche hat Zutritt.
Ihr Film wurde auf über 90 internationalen Filmfestivals gezeigt. Aber in El Salvador gab es Schwierigkeiten.
Im vergangenen August war die Filmpremiere in einem kommerziellen Kino in El Salvador geplant – aber eine Woche zuvor erhielt das Kino Briefe von Pro-Lifers mit der Drohung, das Kino anzuzeigen. Das Kino stoppte die Premiere. Auch im TV wurde der Film zensiert. Seither ist El Salvador kein sicherer Ort mehr für mich.
Warum?
Der Präsident hat einen Ausnahmezustand verhängt, der die Grundrechte einschränkt. Polizei und Militär nehmen willkürlich Verhaftungen vor. Man hat kein Recht auf einen Anwalt. Zehntausende Menschen wurden verhaftet und im Gefängnis umgebracht. Feminist:innen, Journalist:innen, Aktivist:innen werden verfolgt. Die Situation ist komplex. Deshalb ist es umso wichtiger, dass ich ausserhalb über die Situation spreche und den Film zeige. Die Protagonistin meines Films, Teodora Vásquez, organisiert mit ihrer Organisation «Mujeres Libres» allerdings regelmässig Community-Screenings auf dem Land und in der Hauptstadt. Derzeit tourt sie durch Deutschland mit Amnesty International. Aber sie wird zurückkehren, was ich sehr mutig finde.
Vásquez hat «Mujeres Libres» nach ihrer Freilassung aus der Haft gegründet. Warum?
Viele der Frauen im Film wurden mittlerweile freigelassen. Aber ihre Strafen wurden nicht aufgehoben, sie wurden bloss reduziert. Die Strafen stehen noch immer im Strafregister, was es ihnen erschwert, einen Job zu finden und das Leben überhaupt zu bewältigen. In der Organisation unterstützen sich die Frauen gegenseitig im Reintegrationsprozess.
Weshalb sind die Gesetze in El Salvador so streng?
Vor 1998 war Abtreibung in drei Fällen als Indikationslösung legal. Dann entschied das Parlament ein totales Abtreibungsverbot, das sogar in der Verfassung verankert wurde. In Artikel 1 steht, dass der Staat alle Menschen ab dem Moment der Empfängnis anerkennt. Die Trennung von Kirche und Staat existiert in der Theorie, aber die Kirchen haben einen grossen Einfluss auf Gesellschaft und Politik. Die christliche Religion ist durch die Kolonialisierung fest verankert. Ausserdem spielen Machismo und Frauenfeindlichkeit eine grosse Rolle.
Welche Auswirkungen hat das komplette Abtreibungsverbot?
Wer Geld hat, treibt im Ausland ab. Es gibt kaum Alternativen. Wer arm ist, hat praktisch keine Chance. Hausgemachte Abtreibungen sind gefährlich, viele Frauen sterben dabei. Sie trauen sich nicht, Hilfe zu suchen, aus Angst vor dem Gefängnis.
Ab 1998 begann der Staat also, Frauen nicht nur für Abtreibungen, sondern auch für Fehlgeburten zu kriminalisieren. Wie muss man sich das praktisch vorstellen?
Wenn eine Frau nach einer Fehlgeburt ins Spital geht, weil sie Hilfe benötigt, wird sie im Spital kriminalisiert: Ärzte rufen die Polizei, diese kommt ins Spital, verhaftet die Frauen, und sie werden wegen Mordes angeklagt. Aber – und hier kommt auch Klassismus hinzu – nur Frauen, die in Armut leben, werden kriminalisiert. Wer Geld hat, geht in eine Privatklinik, dort wird die Polizei nicht angerufen.
In Lateinamerika spricht man von der «Marea Verde» («Grüne Flut»). Die feministische Bewegung für die Legalisierung von Abtreibungsrechten hat dazu geführt, dass Abtreibungen in Argentinien, Mexiko und Kolumbien neuerdings legal sind. Könnten diese Entwicklungen helfen, Verbesserung in El Salvador zu erreichen?
Es hat zwei Seiten. Der feministischen Bewegung gibt die «Marea Verde» Hoffnung, Kraft und Inspiration. Andererseits führte sie auch zu Gegenreaktionen religiöser und rechtsextremer Politiker: In Honduras ist es nun verboten, im Parlament überhaupt über Abtreibung zu sprechen. In Guatemala und Nicaragua kann man in keinem Fall abtreiben. In Costa Rica in drei Fällen. Kürzlich wurde eine Frau in El Salvador zu 50 Jahren Haft verurteilt, wegen einer Fehlgeburt.
Du bist Filmemacherin, Aktivistin, Künstlerin. Machst du dir Gedanken über die Rollen, die du in deiner Arbeit einnimmst?
Ich möchte Kunst machen und damit etwas aussagen und bewirken. Ich bin Feministin – entsprechend sehe ich die Welt durch eine feministische Brille. Alles, was ich mache, hat damit zu tun. Mir ist wichtig, Frauen und ihren politischen Kontext ins Zentrum zu stellen und zu zeigen, wie komplex und verschieden wir alle sind. Das hat auch mit Repräsentation in den Medien zu tun. Es gibt genügend Geschichten über Männer.
Nun bist du auch Schweizerin. Wie beurteilst du die Situation hier?
Konservative Politiker:innen, die im Namen der Religion die Rechte von uns Frauen einschränken oder sie uns sogar ganz wegnehmen möchten: Das passiert überall, egal in welchem Land. Wichtig ist sich bewusst zu sein: Bloss, weil wir jetzt gewisse Recht haben, heisst das nicht, dass es für immer so bleiben wird. Das sehen wir jetzt in den USA. Darum muss man wählen gehen, damit die Rechtskonservativen nicht an die Macht kommen. Widerstand ist wichtig. Man muss sich organisieren und informieren.
Celina Escher, halb Schweizerin, halb Salvadorianerin, wurde in der Schweiz geboren, lebte während ihrer Kindheit in El Salvador und in der Jugend wieder in der Schweiz. Sie besuchte das Liceo artistico in Zürich, studierte Film in Mexiko City und absolvierte anschliessend ein Dokumentarfilmstudium an der internationalen Filmschule in Kuba. Escher lebt heute in Schweden.
Ihr Film «Fly So Far» wird am 12. April 2023 anlässlich des Human Rights Days im Kino RiffRaff in Zürich gezeigt. Den Trailer zum Film gibt es hier.