Nach sechs Jahren in Zürich ist es an der Zeit, in die USA zurückzukehren. Es gibt so viele Dinge, die ich vermissen werde.
Ich werde vermissen, wie mir der Atem stockt, wenn ich an einem klaren Tag die Alpen sehe. Ich werde das Schwimmen in der Limmat vermissen. Ich werde es vermissen, Schweizer:innen zu beobachten, die sich aufregen, wenn das Tram fünf Minuten Verspätung hat. Ich werde es vermissen, dass meine Kinder die Stadt eigenständig erkunden können. Ich werde die Proteste auf dem Ni-Una-Menos-Platz, das Zurich Pride Festival und die Freiwilligen vermissen, die vor dem Lebensmittelgeschäft Unterschriften für Petitionen sammeln. Ich werde die älteren Menschen vermissen, die mit ihren Hunden im Wald spazieren gehen.
Ich werde die «Vereins»-Kultur vermissen – wie ernst die Menschen hier ihre Hobbys nehmen. Ich werde die Liebe der Schweizer:innen zu Weiterbildungen und zu beruflichen Zertifikaten vermissen. Ich werde vermissen, wie formell und höflich die Menschen sind.
Ich werde es vermissen, «Tiptop!» und «En Guete!» zu hören, und dass die Leute sagen, sie seien «enttäuscht» statt «wütend». Ich werde öffentliche Schwimmbäder vermissen, in denen sowohl Bier als auch Cappuccino ausgeschenkt werden. Ich werde die Schweizer Bescheidenheit vermissen – wie die Leute vorgeben, dass sie nicht Ski fahren, Tennis spielen oder gut Englisch sprechen können, aber in Wirklichkeit in all diesen Dingen tatsächlich gut sind. Ich werde sogar das Läuten der Kirchenglocken am Sonntagmorgen vermissen.
Vor allem aber werde ich die Hunderten von jungen Student:innen vermissen, die ich unterrichten durfte – wie klug, neugierig, lustig und freundlich sie sind, wie sie meine Sicht auf die Welt verändert haben.
Aber es gibt eine Sache, die werde ich nicht vermissen: die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts am Arbeitsplatz. Ich werde nicht vermissen, wie selbstgefällig, selbstbeweihräuchernd und allgegenwärtig das männliche Privileg ist und wie es als normal akzeptiert wird. Als berufstätige Frau mit Kindern in meinen späten 40ern werde ich nicht vermissen, dass ich mich gleichzeitig gefangen und unsichtbar fühle.
Das Schweizer Patriarchat: selbstgefällig und herablassend
Ich werde es nicht vermissen, wenn Frauen, die an der Spitze ihrer Karriere stehen, sinnvolle Arbeitsmöglichkeiten verwehrt werden, weil sie Mütter sind. Ich werde die Doppelmoral nicht vermissen, die es Männern erlaubt, mittelmässig zu sein und trotzdem ihren Platz am Tisch zu behalten. Während gleichzeitig von Frauen, die hervorragende Leistungen erbringen, erwartet wird, dass sie im Hintergrund bleiben. Ich werde die Doppelmoral nicht vermissen, die bei Männern Selbstvertrauen als Zeichen von Führungsstärke und bei Frauen als Arroganz definiert. Ich werde es nicht vermissen, wenn fähige Schweizerinnen ihr Talent verstecken oder sich weigern, offen über Sexismus zu sprechen, weil sie Angst haben, das System sonst ins Wanken zu bringen. Ich werde nicht vermissen, dass Frauen ohne Kinder Frauen mit Kindern untergraben. Einfach nur deshalb, weil das Patriarchat uns alle erfolgreich davon überzeugt hat, dass wir Frauen untereinander um wenige Plätze konkurrieren. Ich werde die andauernde Abwertung von Frauen, sowohl von ausländischen als auch schweizerischen, nicht vermissen, insbesondere von Frauen, die Geflüchtete, muslimisch oder People of Color sind.
Das soll natürlich nicht heissen, dass das Patriarchat in den USA tot ist. Aber die geschlechtsspezifische Diskriminierung, die andere Frauen und ich im beruflichen Kontext in der Schweiz erlebt haben, hat einen ganz eigenen Charakter, ähnlich wie in den 1970er-Jahren in den USA – eine ungewöhnliche Selbstgefälligkeit. Sie ist anmassend und herablassend. Das Patriarchat weiss, dass es immer noch die Oberhand hat, und zweifelt nicht daran, dass es im Recht ist. Das Patriarchat in der Schweiz ist noch nicht einmal an dem Punkt angelangt, an dem es merkt, dass es vielleicht nicht ganz so selbstgefällig sein sollte.
Die Dankbarkeitsstrategie des Patriarchats
Die wichtigste Verteidigungsstrategie des Patriarchats, wenn es um die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern geht, ist das Narrativ, dass Frauen so viel Glück haben, in einem so friedlichen, wohlhabenden und geordneten Land wie der Schweiz zu leben. Dass es unhöflich ist, beunruhigende Aspekte (wie Fremdenfeindlichkeit oder Sexismus) zu kritisieren. Die Norm «Ausländer müssen dankbar sein, Schweizer auch!» – kombiniert mit der Tendenz, Probleme unter den Teppich zu kehren, um Disharmonie zu vermeiden – funktioniert sehr gut für diejenigen, die davon profitieren. Es macht Sinn, den Status quo zu verteidigen, wenn er einem gut gedient hat.
Für andere ist dieses Element des Gesellschaftsvertrags jedoch erdrückend. Es ist eine Sache, wenn die eigenen Rechte auf Gleichheit und Würde verletzt werden. Es ist eine andere Sache, wenn Menschen sich weigern, diese Verletzung anzuerkennen – oder schlimmer noch, wenn sie behaupten, dass sie zum Wohle der Allgemeinheit gerechtfertigt ist. Es zeugt von der Macht des Patriarchats in der Schweiz, dass es ihm gelungen ist, das «grössere soziale Wohl» als das Wohlergehen der einen Hälfte der Bevölkerung zu definieren, während der «kleine Preis, den man zahlen muss», «nur» das Wohlergehen der anderen Hälfte ist.
Schaffen wir dieses «selbst schuld» ab
Der Schlüssel zur Aufrechterhaltung des Patriarchats in der Schweiz ist die Tendenz, die Schuld auf seine Kritiker:innen zu schieben. Du bist unglücklich? Du bist selbst schuld! Wenn du eine grosse Karriere willst, warum hast du dann Kinder bekommen? Wenn du die traditionellen Werte nicht magst, warum bist du dann in die Schweiz gezogen? Wenn du nicht als arrogant gelten willst, warum hast du dann um eine Beförderung gebeten? Wenn du nicht von deinem Ehemann verletzt werden willst, warum hast du ihn dann immer wieder provoziert? Selbst schuld!
Frauen, die gegen die Geschlechternormen verstossen, werden als unhöflich, aufdringlich, kompliziert, gierig und arrogant abgestempelt. Es gilt die Regel, dass Frauen in der Schweiz ihre Leiden bescheiden und still ertragen müssen. Wir sollten mit dem Wohlwollen des Patriarchats zufrieden sein. Schliesslich ist die Schweiz ein demokratisches Land mit einer starken «humanitären Tradition» und «Achtung der Menschenrechte» – eine Oase der Stabilität in einer chaotischen und gefährlichen Welt. Und wie können wir es wagen, die Schweiz zu kritisieren, wenn die Menschenrechtslage in so vielen Ländern weitaus schlechter ist? Wie kann man es wagen, der Schweiz zu unterstellen, sie trage zu den Menschenrechtsverletzungen an Frauen im Ausland bei?
Ich stimme zu, dass Höflichkeit wichtig ist. Ich bewundere die Schweizer Normen der Bescheidenheit und der sozialen Harmonie. Ich respektiere zutiefst den Wert, den die Schweizer Kultur der Konsensbildung beimisst. Ich stimme zu, dass es wichtig ist, für das, was man hat, dankbar zu sein und den Fortschritt zu würdigen, der dank Generationen von Schweizer Feministinnen erreicht wurde.
Aber ich denke auch, dass es an der Zeit ist, «selbst schuld!» aus dem Wortschatz zu streichen. Die Abwehrhaltung, die den «Whataboutism» schürt, wenn in der Schweiz Fragen der Geschlechtergleichstellung aufgeworfen werden, muss überprüft werden. Die Standardnorm der Selbstgefälligkeit sollte in Frage gestellt werden. Die Doppelmoral, die von Müttern und Frauen verlangt, perfekt zu sein, und von Männern und Vätern, dass sie nur eine minimale Kompetenzschwelle überwinden, sollte hinterfragt werden. Wir sollten Frauen, auch ausländischen Frauen, zuhören, wenn sie sich «überempfindlich» oder «wütend» (nicht nur «enttäuscht») über Geschlechternormen äussern, statt ihnen einfach zu sagen (wie es mir unzählige Male gesagt wurde): «Wenn es dir nicht gefällt, warum gehst du nicht einfach nach Hause?»
Welche Schweizer Werte sind am wichtigsten?
Ich denke auch, dass es wichtig ist, explizit zu fragen: Wer gewinnt und wer verliert, wenn nur bestimmte «Schweizer Werte» geltend gemacht werden? Welche Schweizer Werte werden im Falle eines Wertekonflikts als die wichtigsten angesehen? Soziale Harmonie auf Kosten der einen Hälfte der Bevölkerung – ist das wirklich ein angemessener Preis?
Dies ist mein Appell an die Schweizerinnen und Schweizer, insbesondere an diejenigen, die sich noch nicht der feministischen und LGBTQI+-Bewegung angeschlossen haben: Ja, es gibt Probleme in anderen Teilen der Welt, von denen ihr weitgehend verschont geblieben seid. Ja, die Schweiz ist ein ganz besonderer Ort. Ja, wir sollten dankbar sein, dass wir in einem wohlhabenden und friedlichen Land leben dürfen.
Aber schaut euch die Daten an. In einem wichtigen Punkt ist die Schweiz ein negativer Ausreisser: die Gleichstellung der Geschlechter am Arbeitsplatz. Im Glass Ceiling Index 2022 von The Economist, der die «Rolle und den Einfluss der Frauen am Arbeitsplatz» misst, rangiert die Schweiz auf Platz 26 von 29 unter den OECD-Ländern, direkt vor der Türkei, Japan und Südkorea. In einem Index zur Gleichstellung der Geschlechter in europäischen Unternehmen und Verwaltungsräten aus dem Jahr 2021 belegt die Schweiz den viertletzten Platz, direkt vor Polen, Luxemburg und Griechenland. Im Vergleich zu Institutionen in anderen Ländern sind Schweizer Banken und Anwaltskanzleien besonders ungleich, ebenso Schweizer Universitäten. Frauen erhalten in der Schweiz immer noch 11 Prozent weniger Lohn als Männer für dieselbe Arbeit.
In anderen Ländern werden Frauen nicht regelmässig vor die Wahl gestellt, entweder Mutter zu werden oder eine vielversprechende Karriere zu machen. Männer in Führungspositionen verstossen in anderen Ländern nicht andauernd gegen das Gesetz, indem sie Bewerberinnen nach ihren Kinderplänen fragen. Unternehmen veranstalten nicht regelmässig «Expertenrunden», die nur aus Männern bestehen, und gehen nicht davon aus, dass das Führungsteam entweder nur aus Männern oder nur aus Männern und vielleicht einer oder zwei Frauen (idealerweise ohne Kinder) besteht. In anderen Ländern wird von Frauen nicht erwartet, dass sie ihre Kinder in ihrem Lebenslauf angeben. In vielen beruflichen Kontexten ausserhalb der Schweiz ist es üblich, geschlechtsneutrale Pronomen zu verwenden, wenn dies gewünscht wird.
Bescheidenheit, Höflichkeit und soziale Harmonie sind wichtige Schweizer Werte. Aber auch Gleichheit, Freiheit und Würde. Ich habe Hunderte von jungen Schweizer:innen aller Geschlechter unterrichtet, die alle diese Werte vorleben. Diese Schüler:innen haben eine glänzende Zukunft vor sich. Lassen wir nicht zu, dass unsere Selbstgefälligkeit mit dem Schweizer Patriarchat ihnen im Weg steht.
Alexandra Dufresne ist Menschenrechtsanwältin und lehrt an Schweizer Hochschulen.