Dorette Balli sitzt vor ihrem Computerbildschirm in Langenthal, den Hintergrund elegant ausgeblendet. Ab und zu huscht im Verschwommenen ein flauschig-weisser Schatten vorbei, nach unserem Gespräch steht der Rentnerin noch ein Spaziergang bevor: «Der Vorteil von Hunden ist, dass man bei jedem Wetter mit ihnen rauskann. Der Nachteil von Hunden ist, dass man bei jedem Wetter mit ihnen rausmuss», sagt die 67-Jährige und lacht. Sie ist Teil der Regionalgruppe Oberaargau der Grossmütterrevolution.
Dürfen Grossmütter das?
Der Verein besteht aus vier regionalen Arbeitsgruppen und versteht sich selber als «modernen Thinktank für eine neue Generation». Zweimal im Jahr trifft man sich zu Vernetzung und Austausch, daneben laufen regionale Aktionen. Verschiedene Arbeitsgruppen widmen sich etwa dem Archivieren von Frauennachlässen, tauschen sich über Gedanken zum Sterben aus oder veröffentlichen eigene Publikationen.
Die Grossmütterrevolution rüttelt seit 2011 am gesellschaftlichen Verständnis davon, was eine Grossmutter überhaupt ist: «Viele von uns haben immer noch dieses Bild der alten Frau mit grauem Dutt im Kopf, die zu Hause sitzt und auf die Enkelkinder schaut – sonst kommt die Grossmutter in der Gesellschaft aber kaum vor.» Dabei leisten ältere Frauen einen Monsteranteil der Erziehungs- und Care-Arbeit – notabene unbezahlt.
Grossmütter – die unsichtbare Workforce
Balli selber hat keine Kinder. Ein bewusster Entscheid war das nicht: «Mit meinem ersten Mann klappte es nicht, und als ich das zweite Mal verheiratet war, war ich schon 40. Das war mir dann zu spät. Ich bin zwar keine Grossmutter, aber ich bin Revolutionärin», erzählt sie. Neben dem Vollzeitpensum bei der Arbeit, dem freiwilligen Engagement und dem Politisieren wäre für Kinder auch nicht wirklich Zeit geblieben: Balli ist Vollblut-SPlerin, leitete soziale Wohngruppen und engagiert sich heute ehrenamtlich für schwerkranke Menschen, die im Sterben liegen. «Durch diese Arbeit wurde mir klar, dass man im Leben wirklich nur das bereut, was man nicht getan hat», sagt Balli. Vielleicht hätte sie sich ohne ihr ehrenamtliches Engagement letztes Jahr nicht nackt vor eine Kamera gestellt.
Reizthema alte Frauenkörper
«Das war etwas vom Mutigsten, was ich in meinem Leben getan habe», sagt sie und meint damit das Shooting für den Jahreskalender 2022 «Nackte Tatsachen», den die Grossmütterrevolution Ende letzten Jahres herausgebracht hat: Frauen posieren darin mit goldig bemaltem Dekolletee, manche von ihnen ganz nackt, andere eingehüllt in bunten Tüllstoff. Der weibliche Körper, seit jeher ein politisches Reizthema, wird noch provokanter, wenn er altert.
Für Balli war das Shooting ein heilendes Erlebnis: «Ich habe mit dem Rauchen aufgehört und hatte eine Kortisonbehandlung. Mein Körper hat sich dementsprechend verändert, und ich muss ehrlich zugeben, dass mir das etwas zu schaffen gemacht hat. Aber die Bilder sollen gar nicht normschön sein, sie sollen zeigen: Wir sind alte Frauen, wir haben noch immer etwas zu sagen!»
Und sie haben auch einiges zu tun: Am feministischen Kampftag im März 2019, kurz bevor die Pandemie zuschlug, machte sich Balli zusammen mit ein paar verbündeten Frauen an den Verkehrsschildern in Langenthal zu schaffen. Mitten in der Nacht klebten die Aktivistinnen den gezeichneten Männchen kleine Röcke an. Weit kamen sie aber nicht: «Wir wurden ziemlich schnell von der Polizei aufgehalten, und man sagte uns, dass wir uns also ganz und gar nicht altersadäquat verhielten», sagt Balli und kichert.
Einerseits will die feministische Vereinigung also auf veraltete Rollenbilder aufmerksam machen, andererseits gilt ihr Engagement auch ganz konkret politischen Themen: «Altersarmut ist noch immer weiblich», so Balli, «und zwar nicht, weil die Frauen nicht arbeiten – sondern weil sie eben oft gratis arbeiten.» Der gesellschaftliche Tenor lautet: Die Alten kosten nur, sie beziehen zu viel Geld aus der Krankenkasse, und die AHV leidet unter ihnen; deshalb nun der Plan, das Rentenalter auch für Frauen zu erhöhen.
Wirtschaftsfaktor Rentner:innen
Dabei wird negiert, dass pensionierte Menschen und insbesondere Frauen einen beträchtlichen Teil zur Wirtschaft beitragen, jedoch häufig zugunsten von anderen und unbezahlt. Die Organisation eines Familienlebens – oder schon nur das Zusammenleben mit einem berufstätigen Ehemann – gleicht der Führung eines grossen Unternehmens, erzählt Balli: «Ich war neben meinem Beruf ständig damit beschäftigt, meine Hausarbeiten so zu takten, dass alles aufgeht: Wann muss ich waschen, damit ich rechtzeitig bügeln kann, damit die Wäsche morgen früh frisch im Schrank hängt für mich und meinen Mann?»
Und heute kämen viele berufstätige Familien ohne die Unterstützung der Grosseltern nicht zurecht, bringen sie doch ein ganzes Leben an Erfahrung in Betreuungsarbeit mit. Der Generationenbericht Schweiz schätzt den Gesamtumfang an unbezahlter Kleinkindbetreuung durch über 50-jährige Personen pro Jahr auf rund 100 Millionen Stunden, knapp 79 Millionen davon leisten Ehefrauen und Grossmütter. Aufs Jahr gerechnet entspricht die gesamte unbezahlte Betreuungsarbeit einer Arbeitsleistung im Wert von über zwei Milliarden Franken.
Sind Omas Altlast oder Goldeselinnen?
«Und trotzdem hat man im Alter ‹s Zwoi am Rügge›. Ausserdem ist die finanzielle Unterstützung an Kinder oder Grosskinder nicht zu unterschätzen», sagt Balli. Mit diesen Themen beschäftigt sich die erste Podiumsdiskussion der Regionalgruppe Oberaargau der Grossmütterrevolution: «‹Altlast oder Goldeselin› – Kosten wir mehr, als wir leisten?», die heute Donnerstag stattfindet.
Blickt Balli in die feministische Zukunft der Schweiz, ist sie dennoch hoffnungsvoll: «Es hat sich so unglaublich viel getan in den letzten Jahrzehnten. Natürlich macht mir das Hoffnung. Und die Jungen sind endlich auch wieder erwacht, die waren so lange brav!» Eines der prägendsten Ereignisse diesbezüglich war für Balli der legendäre Frauen*streik 2019. In Langenthal gehörte sie zusammen mit einer jungen Frau aus der JUSO zu den Initiantinnen: «Wir haben uns gesagt, wenn zur ersten Sitzung mehr als fünf Leute kommen, dann ziehen wirs durch.» Gekommen sind über 30, am Frauenstreik in der Stadt selber nahmen schliesslich über 4000 Menschen teil. Zwar gibt es noch einiges zu tun, Erlebnisse wie der Frauen*streik aber geben Balli Kraft: «Es ist eine neue feministische Kraft erwacht in der Schweiz. Ganz ehrlich, ich könnte schreien vor Glück!»
Podium «‹Altlast oder Goldeselin› – Kosten wir mehr, als wir leisten?», Donnerstag, 28. April 2022, 18.30–20.30 Uhr, in der Alten Mühle in Langenthal. Es diskutieren: Stephan Bösiger, Pfarrer in Langenthal, Monika Lang, Co-Präsidentin Frauenverein Herzogenbuchsee, und Franziska Ryf, Vorstandsmitglied Seniorebrügg Langenthal. Der Eintritt ist frei.