Wir fragen Männer, was sonst nur Frauen gefragt werden. Heute mit Tilman O’Donnell, stv. künstlerischer Leiter beim Ballett Basel.
Es ist Premierenzeit. Die Proben häufen sich. Tänzer und Choreograph Tilman O’Donnell schiebt dieses Interview über Mittag in seinen Tag. Die Haare seien länger als normalerweise, «keine Zeit für den Coiffeur», kommentiert er seine Optik.
Ein Männerfragen über heteronormatives klassisches Ballett, Vorurteile gegen männliche Tänzer – und Leiden als Teil des Traums.
Ballett gilt als rosaroter Jungstraum. Warum wolltest du Ballettprofi werden?
Meine Geschwister und ich gingen in den USA, wo wir aufgewachsen sind, in die Steiner-Schule. Da hat mir Eurythmie, wo man etwa den Namen tanzt, sehr gefallen. Plus tanzte ein Klassenkamerad Ballett. Seine Mutter nahm mich zu einer seiner Vorstellungen mit – das weckte meine Liebe zum Tanz. (Pause.) Weisst du, welches Gefühl es auch weckte?
Sag es mir.
Neid.
Oh.
Ich dachte, ich sollte auf der Bühne stehen, nicht er. Mein Performer-Ego war geboren.
Wie ging es weiter?
Da war ich etwa neun. Zu Hause teilte ich meinen Eltern mit, dass ich mit Ballett anfange. Etwa mit 13 Jahren zog ich alleine nach Toronto, um die «National Ballet School of Canada» zu besuchen.
Wie tanzt es sich, wenn sich der Körper in der Pubertät verändert?
Das ist nicht ohne. Bei einem Beruf wie Tänzer ist es wichtig, früh genug anzufangen. Man braucht 10’000 Stunden, um Profi werden zu können. In der Pubertät wächst du plötzlich ungeheuer schnell und befindest dich in einem Hormon-Chaos. Zum Glück war die Ballettschule bereits Anfang der 90er-Jahre ziemlich progressiv. Unsere heranwachsenden Körper wurden gezielt mit Cross- und Gewichtstraining unterstützt. Auch mit psychologischer Unterstützung.
Klassisches Ballett ist immer noch sehr heteronormativ. Ist das nicht einengend?
Doch. Weshalb mich inzwischen auch zeitgenössischer Tanz mehr interessiert. Ich bin stets auf der Suche nach neuen (Ausdrucks-)Formen und Ideen. Als ich mit Ballett anfing, war ich übrigens der einzige Junge in der Klasse, neben 26 Mädchen.
Wie war diese männliche Sonderrolle für dich?
Im klassischen Ballett braucht es die Männer, und sie sind eher rar. Das hat Vorteile. Ich war eine Minorität.
Was ist mit Vorurteilen: Ein Primaballerino sei unmännlich?
Gerade in der Schule, zu Beginn der Pubertät, war ich häufig damit konfrontiert, ja. Das war schon krass. Aber je mehr meine Leistung sich steigerte, desto mehr Respekt konnte ich mir erarbeiten. Ich glaube, Leidenschaft kann jeder erkennen.
Ballett strebt nach Perfektion. Ihr Männer seid bekannt dafür, Kompetitives zu vermeiden …
Bei uns in der Ballettschule wollten alle, Frauen wie Männer, an die grossen, renommierten Wettbewerbe.
Wie kommst du als Mann in der patriarchalen Ballettwelt klar mit Druck und Konkurrenz?
Erstens habe ich mich früh entschieden, mich auch mit anderen Tanzformen und dementsprechend anderen Strukturen in Verbindung zu bringen. Zweitens finde ich, patriarchale Machtstrukturen sind nicht immer geschlechtsbedingt oder der Hierarchie geschuldet.
Wie meinst du das?
Für mich ist damit eine bestimmte Art zu denken gemeint. Es geht darum, wie eine Person Macht ausdrückt und lebt. Das geschieht nicht notwendigerweise durch einen männlich oder weiblich gelesenen Menschen. Oft stecken dahinter etwa veraltete Traditionen. Ich versuche in einem ersten Schritt, diese Strukturen zu erkennen und zu verstehen. Und – gerade als leitende Person, wie ich es als Stellvertretender Künstlerischer Leiter oder Choreograph ja bin, suche ich zweitens den Dialog mit den Menschen, mit denen ich arbeite. Ich versuche allen Menschen und ihrer individuellen Situation Verständnis entgegenzubringen. Ich sehe dies als einen wichtigen Teil meiner Verantwortung.
Klingt fast schon weiblich empathisch …
(Lacht.) Es ist einfach wahr. Ohne Gefühle, ohne emotionale Intelligenz, ohne Bauchgefühl kommt man nirgendwo hin. Im Tanz schon gar nicht.
Touché. Beim Profiballett hält sich die Vorstellung hartnäckig, dass Leiden ein Teil des Traums ist. Wie stehst du dazu?
(Lehnt sich im Stuhl zurück, guckt nachdenklich.) Leiden ist ein Teil des Lebens. Der Weg zu etwas, das du noch nicht kannst, besteht teils aus Freude, teils aus Disziplin, und ja, teils aus Leiden. (Pause.) Aber, um auf die Machtstrukturen zurückzukommen, leiden darunter finde ich nicht notwendig.
Was für ein Leiter bist du?
Ich hoffe, ein empathischer. Es steht und fällt alles mit der Kommunikation. Mit professionellen Tänzer:innen ist es ein Miteinander, das gegenseitiges Verständnis voraussetzt. Kein Trimmen von oben herab.
Typ Softie?
Ich fordere auch. Beginnt man Tanz sehr jung, wachsen das Ego und der Körper gemeinsam. Gleichzeitig steht ein:e Tänzer:in auf der Bühne und wird angeschaut und bewertet. Das ist für die Persönlichkeitsentwicklung kompliziert.
Du sprichst aus Erfahrung?
Auch bei mir war – und bleibt – es ein Prozess, bis ich sagen konnte und kann: Ich bin okay, mein Körper ist okay. Heute weiss ich: Wir sind mehr als das, wie wir aussehen. Das schafft einen kreativen Freiraum und ermöglicht eine neue Ästhetik und dadurch neue Formen von Identitäten. Das ist eine der Stärken des Tanzes.
Wie alt bist du eigentlich?
43.
Wie merkst du das Alter?
Auf zwei Arten. Einerseits schmerzt mein Körper heute anders als früher, stärker. Andererseits bin ich künstlerischer geworden durch meine Reife. Ich bin nicht mehr so stark damit beschäftigt, darüber nachzudenken, wie ich ankomme. Ob ich ein Objekt der Begierde bin.
Apropos Objekt der Begierde: Ab 40 werden Männer für die Gesellschaft unsichtbar …
Ja, in dem Alter wirst du als Tänzer unsichtbar. Totally. Egal, welches Geschlecht du hast.
Leidest du unter dem Älterwerden?
Ich glaube nicht. Ich habe Arbeit und bin immer noch engagiert. Das ist ein Privileg. Ich bin seit 25 Jahren professionell in der Tanzwelt unterwegs. Damit bin ich beschäftigt und nicht damit, dass ich älter werde.
Stört es dich, dass dein Äusseres oft wichtiger war als deine Leistung?
Jein. Zum Ende meiner klassischen Ausbildung, mit etwa 18, wurde mir gesagt: Du wirst nie professionell tanzen.
Warum das?
Ich hatte eine Rückenverletzung. Mit viel Unterstützung der Schule und auch der Familie habe ich mich zurückgekämpft. Als es mir besser ging, habe ich die gesamte Ausbildung über acht Monate wiederholt. Daneben habe ich aus Neugierde andere Tanzformen als «nur» Ballett kennengelernt. Diese schlimme Zeit hat mir neue Horizonte eröffnet. Ich verstand: Es geht nicht nur um das Aussehen, sondern auch um den Inhalt. Und ich hatte und habe das Glück, in Kompanien zu arbeiten, wo man das auch so sieht. Verletzungen passieren, das ist Teil des Tänzerlebens.
Hast du einen Schönheitstipp für Tänzer, bevor sie auf die Bühne gehen?
Gut aufwärmen. Da strahlt man. Da ist der Körper wach. Die Zellen sind aktiv. Ich glaube, Vitalität und wirklich im Körper zu sein, das ist das Schönste an einem Menschen.
Innere vor äusseren Werten?
Ja. Weil, wer von innen strahlt, auch von aussen schön ist. Gut aufgewärmt und wohl im Körper kannst du alles ausdrücken, egal ob schön, hässlich oder neutral. Diese Palette macht uns Menschen doch erst interessant.
Kommen wir zum Privatleben. Keine Sorge, wegen der Karriere die Familie zu verpassen?
Ich habe immer irgendeinen Teil meiner Familie oder Freund:innen verpasst. Das gehört dazu, wenn man als Tänzer in verschiedenen Ländern unterwegs ist.
Wie also bringst du Karriere und Kinder unter einen Hut?
Ich will nicht für alle Eltern sprechen. (Pause.) Aber ich habe das Gefühl, Eltern zu sein bedeutet, es ist nie perfekt.
Ja, das Gefühl habe ich auch. Du arbeitest oft am Abend. Wer bringt die Kinder ins Bett?
Meine Frau und ich sind beide darstellende Künstler, und arbeiten oft abends. Das bedingt: Wir kommunizieren und kommunizieren und planen und planen. Und dann gibt es trotzdem Notfälle – und wir müssen erneut planen. Das gehört zum Erziehen: viel Planen – und Humor.
Galgenhumor?
Ohne geht’s nicht.
Kennst du Mental Load?
Ja. Als freischaffender Tänzer, Choreograph und Lehrer war auch ich lange Zeit zu Hause – und somit war ich der, der vieles für die Kinder machte. Dann wieder bin ich drei, vier Wochen am Stück weg, für eine Choreographie zum Beispiel – dann ist der Mental Load bei meiner Partnerin. Daneben haben wir glücklicherweise viel Hilfe von Familie und Freund:innen. It takes a village …
Und wenn der Geburtstag eines deiner Kinder dann ist, wenn du nicht daheim bist?
Phu, das ist nicht leicht. Jetzt sind die Kinder in einem Alter, da wollen sie mit den Schulkamerad:innen feiern, so eine grössere Feier lässt sich zeitlich ja etwas schieben … (grinst.)
Das wars. Wie wars?
Die privaten Fragen sind ... schon privat. Aber in so einem Format gehört das dazu. Also alles ok. Ich bin ja nie nur Tänzer oder Leiter, sondern immer auch Vater oder Bruder oder Sohn. Oder aber Mann meiner Frau.

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