Es begab sich zu jener Zeit, dass Kaiser Augustus anordnete, dass die gesamte Bevölkerung seines Reichs an den Geburtsort zurückkehren solle, um sich zu registrieren. Eine Volkszählung sollte stattfinden, ein Einwohnerregister sollte erstellt werden. Und siehe, 2022 Jahre später ist die Technik kein bisschen weiter fortgeschritten, und noch immer müssen die Menschen zum Amt pilgern, um sich standesgemäss anzumelden. Nur die Faxgeräte seien zu Augustus' Zeiten etwas moderner gewesen.
Maria hatte zu jenem Zeitpunkt längst errechnet, dass unter ihrem Herzen wohl ein Kind wachsen müsse. Oder dass sie extrem früh in die Wechseljahre gekommen war. Heute nennt man das nicht mehr Wechseljahre oder Abänderung, heute heisst es Change-Management. Die Veränderung würde nicht lange unbemerkt bleiben, das wusste Maria. Natürlich ahnte sie, wer der Vater des Kindes war. Oder besser: der Erzeuger. Nur Jehova war Zeuge gewesen bei dem, was später «Orgie mit minderjährigen Mädchen», «wildes Fest mit Unzucht» oder «Begattung einer Unwilligen» genannt wurde. Keiner der Männer würde je zur Rechenschaft gezogen werden. Schuld war die Frau. Sie hatte nicht Nein gesagt. Ein Bein hatte geblitzt. Die Haare hatten gelockt. Das Kopftuch zu locker gesessen. Es gab immer einen Grund. Meist war er schleierhaft.
Es wäre wohl das Beste, dachte sie, aus der Stadt zu verschwinden. Die grosse Migrationsbewegung lieferte ihr dazu die einmalige Gelegenheit. Joseph, der alte abgerissene Zimmermann, wäre wohl froh um eine Begleitung in seine Heimatstadt. Dieser eingefleischte Junggeselle stand ziemlich sicher nicht auf Frauen, er würde sie wohl in Ruhe lassen.
Auf dem langen Weg ersann Maria eine Geschichte, wie denn eine Jungfrau zum Kind käme. Ein Engel sei ihr erschienen und habe erklärt, das Kind stamme direkt von Gott, der den Samen in sie gepflanzt habe. Durch den Heiligen Geist. Eine Übertragung der genetischen Daten ohne Berührung. Quasi per AirDrop.
Nach der beschwerlichen Reise wurde unter schwierigsten Umständen das Kind geboren und bekam ein rares Geschenk: einen Krippenplatz direkt ab Geburt. Das Kind wurde Susi getauft, Kurzform für Jesusa (erst rund 2000 Jahre später würde man sie Jessy nennen). Sie bekam Geschenke von drei Sterndeutern, doch Susi wusste nicht, was sie mit Weihrauch, Myrrhe und Gold anfangen sollte. Sie ahnte, ihren Nachfahrinnen wären Bitcoins lieber als Gold und statt einer Weihrauchsäule könnten sie eine dritte Säule gebrauchen.
In ihrem zwölften Lebensjahr wurde sie mitgenommen zum Tempel. Hinein durfte sie allerdings nicht, das war den Männern vorbehalten. Susi liess sich das natürlich nicht gefallen. Sie sei die Tochter Gottes, mehr als nur ein Sprachrohr, nicht einfach eine Uriella für Arme, nein, sie sei quasi Gott selber, die Inkarnation Gottes, welcher selber nur Geist sei oder im Himmel, wo er nicht selber eingreifen könne. Sie gehöre in diesen Tempel, sagte sie. Die Zeiten, in denen Frauen nicht in den Tempel durften, waren damit vorbei. Wäre sie ein Junge gewesen, hätte sie wohl ein Zeichen gegen Kapitalismus gesetzt und die Händler aus dem Tempel getrieben. Susi jedoch holte die Frauen der Händler in den Tempel und gab ihnen Mikrokredite, damit sie ein nachhaltig lohnendes Geschäft aufziehen konnten. In kürzester Zeit florierte ein friedlicher Handel mit einem Netzwerk von Frauen, die risikoarm mit ihren Ressourcen umgingen und so für ihre Nachkommen vorsorgen konnten. Change Management.
Susi war gern gesehen. Was sie sagte, sprühte vor Intelligenz. Sie war sogar wundertätig. Einst wurde sie zu einem Hochzeitsfest eingeladen. Die Leute hatten Durst, aber da stand nur noch saurer Wein herum. Sie gab vor, den Wein in Wasser zu verwandeln. Alle hatten zu trinken, ohne dass sie berauscht wurden und ohne dass sie die Frauen gefügig zu machen versuchten. Wasser war völlig ok, Wein hingegen machte gerne k.o., das konnte gefährlich werden.
Am Strand kamen einige Fischer zu ihr und sagten, dass sie ihr gerne folgen wollen, aber Susi sagte: «Gehet hin und helfet euren Weibern bei der Aufzucht eurer Brut und lasst die Weiber im Tempel mit ihren Mikrokrediten handeln, so dass ihr genügend Geld habt für eine gute Ausbildung für die Kinder.»
Einmal fehlten Brot und Fische, weil ihre Anhängerinnen Hunger hatten. Susi aber liess erfahrene Müllerinnen, Bäckerinnen und Fischerinnen kommen, welche dem Volk beibrachten, sich selbst zu helfen. Susi ging nicht übers Wasser. Sie ging über Leichen. Und erweckte diese damit zum Leben.
Sie verzichtete jedoch darauf, Kranken ihre Spucke ins Gesicht zu schmieren, um sie zu heilen. «Ihr habt wohl noch nie von Corona gehört», meinte sie und errichtete Spitäler mit gut bezahltem Pflegepersonal. Die Berufe, welche Männer ausübten, wurden hingegen je länger je schlechter bezahlt. Auch wurde der männliche Beitrag zur Fortpflanzung nicht mehr so hoch geschätzt, seit man vom AirDrop-Prinzip wusste. Ohnehin reichte ein gut gebauter Mann locker für die Gründung mehrerer Familien. Wichtig waren die Frauenkörper. Susi liess sich nicht aufs Kreuz legen und nageln, ausser wenn sie dazu deutlich Ja gesagt hatte. So starb sie glücklich und erfüllt im biblischen Alter von 98 Jahren.
2000 Jahre später betrieb man einen Susi-, beziehungsweise Jessy-Kult. Menschen gingen übers Wasser mit Stand-up-Paddeln. Junge Frauen nannten sich Jessy und scharten Anhängerinnen um sich. Aber obwohl sie nur 12 Follower gehabt hatte, blieb Susi die wichtigste Influencerin der Geschichte.
Doch nun begannen sich die Männer zu wehren. Das sei unwürdig, monierten sie, dass ihre Berufe schlecht bezahlt seien, dass ihre Geschlechtsgenossen im Embryonalstadium abgetrieben würden, dass sie eine schlechte Altersvorsorge hätten und per Gesetz keinen Alkohol trinken dürfen. Es sei an der Zeit, dass frau auch Krankheiten wie Prostata- oder Hodenkrebs behandle und nicht totschweige. Und eine Kirche nur mit weiblichen Priesterinnen, eine Kirche, in welcher der männliche Körper nur als Samenspender betrachtet werde, sei einfach nicht mehr zeitgemäss. Vor allem aber sollten sie endlich in der Sprache abgebildet werden. Sie fühlten sich nicht mitgemeint, wenn sie sich auf dem Einwohnerinnen-Amt registrieren müssen.