Kann Schneeräumen sexistisch sein? Dieser Frage geht die Autorin Caroline Criado Perez in ihrem Buch «Unsichtbare Frauen» nach. Auch wenn die Frage aktuell nicht ganz zur Saison passt, ist sie sehr sinnbildlich. Denn am Beispiel der schwedischen Kleinstadt Karlskoga zeigt Caroline Criado Perez auf, was Schneeräumung mit Gleichstellung zu tun hat. Über Jahrzehnte wurden in Karlskoga bei Schneefall zuerst die Hauptstrassen, dann die Nebenstrassen und zuletzt die Geh- und Fahrradwege geräumt. Diese Reihenfolge benachteiligte insbesondere die Bewohnerinnen von Karlskoga.
Warum gehen Frauen andere Wege?
Frauen sind in vielen Ländern Europas häufiger zu Fuss oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs als Männer. Zudem legen sie oft komplizierte Wege zurück, weil sie auf dem Weg zur Arbeit noch Zwischenstopps einlegen, etwa bei der Kinderkrippe oder im Supermarkt. Auf Forderung einer Gleichberechtigungs- Initiative kehrte die Regierung von Karlskoga im Jahr 2011 die Reihenfolge bei der Schneeräumung um. Das Ergebnis? Die Änderung brachte für Männer wenig Nachteile, hatte aber mehr positive Folgen für Frauen als vorerst geahnt. In den folgenden Wintern suchten weniger Verletzte die Krankenhäuser auf, weil weniger Fussgängerinnen stürzten.
«Die Leistung von Care-Arbeit ist ein wichtiger Faktor, der im Rahmen einer gendergerechten Stadtplanung beachtet werden soll», sagt Elke Schimmel. Sie ist Präsidentin beim Verein Lares, der sich für einen Kulturwandel im Planen und Bauen von Städten einsetzt: «Bei den meisten Planungen steht nach wie vor die Erwerbsarbeit im Fokus. Bei der Konzeption von Verkehrsnetzen zum Beispiel ist häufig der Pendlerverkehr zwischen Wohn- und Arbeitsort ausschlaggebend. Die Wegeketten von Personen, die Care-Arbeit verrichten, werden viel weniger berücksichtigt.»
Aus Sicht von Schimmel erschwert diese fehlende Anerkennung der (unbezahlten) Care-Arbeit in der Raumplanung nach wie vor die Organisation und Vereinbarkeit von Familie und Beruf. «Bei einer gendergerechten Stadtplanung werden die Bedürfnisse aller Bewohner:innen berücksichtigt. Es geht darum, die Chancengleichheit in unserem Lebensraum zu fördern», so Schimmel.
Wie die soziale Durchmischung die Sicherheit erhöht
Nebst der Care-Arbeit ist das Thema Sicherheit ein zentraler Aspekt beim gendergerechten Planen und Bauen. Gemäss einer Studie der ETH fühlen sich 88 Prozent der Männer im öffentlichen Raum sicher, bei den Frauen hingegen nur 77 Prozent. Bei einer repräsentativen Umfrage des Forschungsinstituts gfs.bern gibt jede zweite Frau an, dass sie in der Öffentlichkeit bereits belästigt wurde.
Dieser Tatsache will die gendergerechte Planung entgegenwirken. Elke Schimmel erklärt: «Bei der gendergerechten Stadtplanung geht es um die Vermeidung von sogenannten Angsträumen. Das Ziel ist, dass man sich angstfrei bewegen kann und sich auf Strassen, Wegen und Plätzen am Tag oder bei Nacht wohlfühlt.» Zu den Standardkriterien für die Erhöhung der Sicherheit im öffentlichen Raum gehören unter anderem Übersicht und Licht, insbesondere an Stellen wie Brücken, Unterführungen, Liftanlagen oder Bahnhofsarealen. Laut dem Schweizerischen Kompetenzzentrum für Menschenrechte spielt aber auch die soziale Durchmischung eine wichtige Rolle für das Sicherheitsempfinden. Beispielsweise können Kinderspielplätze oder entsprechende Sportangebote mehr Frauen und Kinder in Parks locken. Dies wiederum erhöht die soziale Sicherheit im öffentlichen Raum.
Bei gendergerechter Stadtplanung geht es also nicht um die biologischen Unterschiede von Männern und Frauen. «Vielmehr geht es um die sozialen Rollen, die Menschen im Alltag einnehmen oder die von Menschen erwartet werden», so Schimmel.
Girls only im Skaterpark
Dem stimmt auch Eva Lingg zu. Die Österreicherin hat Architektur und Stadtplanung studiert und forscht an der Ostschweizer Fachhochschule zum Thema Wohnen und Nachbarschaften. Sie beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, inwiefern Kinder und Jugendliche öffentliche Räume unterschiedlich nutzen: «Leider gibt es nur wenige Studien zum Thema. Diese benennen aber Unterschiede im Raumverhalten, etwa dass sich Mädchen in öffentlichen Räumen eher zurückziehen und eine beobachtende Rolle einnehmen.»
Für die Expertin ist aber klar, dass dieses Verhalten sozial konstruiert ist. Deshalb fordert sie Angebote, die Mädchen ermächtigen und ermutigen, sich Räume anzueignen. Die Stadt Bregenz gehe hier in Zusammenarbeit mit dem Verein Amazone als Vorbild voran, sagt Lingg: «Zum Beispiel gibt es Girls-Only-Nachmittage im Skaterpark. An diesen Nachmittagen erscheinen die Mädchen in Scharen. Das zeigt, dass Mädchen durchaus Bewegungsangebote in Anspruch nehmen, wenn man ihnen die Gelegenheit dazu gibt.» Für Lingg reicht deshalb eine gendergerechte Stadtgestaltung allein nicht aus. Es brauche auch die Arbeit mit den Mädchen, damit sie sich mehr an die klassischen Plätze der Jungs trauen.
Mobilitätswende begünstigt gendergerechte Städte
Der Verein Lares hilft Schweizer Städten und Gemeinden dabei, Planungen und Projekte auf Gendergerechtigkeit zu prüfen. Lares hat beispielsweise die Umgestaltung des Pfingstweidparks in Zürich begleitet. Entstanden ist ein Quartierpark mit Spielräumen und Aufenthaltszonen, wobei auf Überschaubarkeit und unterschiedliche Erschliessungswege ein besonderer Wert gelegt wurde. Ein Schulhaus schliesst das Areal zur stark befahrenen Pfingstweidstrasse räumlich ab, wobei der Pausenplatz zum Park ausgerichtet ist. Dieser wird dadurch von den Schüler:innen zusätzlich belebt.
Das Angebot von Lares stösst immer mehr auf Anklang, sagt die Co-Präsidentin Schimmel: «Über Jahrzehnte wurde die Trennung zwischen Wohnen und Arbeiten zementiert. Jetzt entdecken viele Schweizer Städte das Konzept der sogenannten 15-Minuten-Stadt wieder: Wichtige Ziele sollen mit nachhaltigen Verkehrsmitteln innert 15 Minuten erreichbar sein. Dies wiederum fördert die soziale und funktionale Durchmischung.» Der Trend wird dadurch verstärkt, dass viele Schweizer Städte klimagerechter werden wollen und deshalb eine Mobilitätswende anstreben. Da die umweltfreundlichsten Verkehrsarten stärker von Frauen genutzt werden, setzten diese Städte damit auch Anliegen der gendergerechten Planung um.
Handlungsbedarf beim Wohnraum
Auch Eva Lingg beobachtet, dass bei der Stadtgestaltung vermehrt Genderkriterien berücksichtigt werden. Sie sieht jedoch vor allem im Wohnungsbau noch Handlungsbedarf: «Die meisten Wohnungen sind noch immer für eine klassische Kleinfamilie konzipiert, obwohl der Grossteil der Haushalte heute anders aussieht. Vor allem für alleinerziehende Frauen in prekären Situationen gibt es noch kaum passende und bezahlbare Angebote.»
Lingg verweist hier auf den Verein Juno in Wien, der solche Angebote schaffen will. Ziel ist es, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, der gleichzeitig funktional ist. Lingg erklärt: «Beispielsweise können Grundrisse so konzipiert werden, dass Räume flexibel abtrennbar sind oder multifunktional genutzt werden können. Auch Gemeinschaftsbüros oder geteilte Aufenthaltsräume sind eine Möglichkeit, um kleine Wohnungsgrundrisse auszugleichen.» In der Schweiz kennt Lingg erst wenige Überbauungen, die solche Angebote haben. Am fortschrittlichsten seien die Genossenschaften in diesen Aspekten. Beispielsweise bietet das Hunziker Areal in Zürich Arbeitszimmer und Gemeinschaftsräume, die Bewohner:innen zusätzlich mieten können.
Eva Lingg und Elke Schimmel sind sich einig, dass nicht nur Mädchen und Frauen von einer gendersensiblen Stadtplanung profitieren. Lingg sagt: «Kurze Wege zwischen Wohnung und Arbeit, mehr Sicherheit und Barrierefreiheit in den Städten, bezahlbarer Wohnraum und gemischte Quartiere – davon profitieren alle.»