Kennen Sie das? Am einen Tag stehen Sie munter und fröhlich um 6.00 Uhr auf, putzen sogleich die Wohnung, sind um 8.00 Uhr geduscht und geschminkt im Büro. Dann ein Meeting über Mittag, ein After-Work-Apéro, Abendessen mit Freundinnen und noch immer haben Sie Energie? Und dann gibt es andere Tage: Sie kommen kaum aus dem Bett. Eine Aufgabe auf der To-Do-Liste anzugehen, fühlt sich an, wie einen hundert Kilo schweren Rucksack zu heben. Sie wollen eigentlich keinen einzigen Menschen sehen, mit niemandem sprechen, nichts entscheiden, und müssen Sie es doch tun, sind Sie entweder sofort auf 180 oder den Tränen nahe?

Marah Rikli
Jeder Tag ist anders – die eigene Energie, die Schmerzen oder die psychische Verfassung variieren manchmal von Stunde zu Stunde.

In einem gewissen Masse ist das absolut normal. Niemand von uns hat immer gleich viel Energie. Niemand von uns hat jeden Tag Lust auf andere Menschen. Alle sind ab und zu erschöpft. Viele Menschen mit Behinderungen, psychischen oder chronischen Krankheiten erleben solche Schwankungen und Phasen von Erschöpfung jedoch in extremer Form. Jeder Tag ist anders – die eigene Energie, die Schmerzen oder die psychische Verfassung variieren manchmal von Stunde zu Stunde.

Jeder Tag muss daher, je nachdem, was ansteht, anders geplant werden. Vor allem bei unsichtbaren Behinderungen wird den Betroffenen oft nicht geglaubt. Wenn sie zum Beispiel an einer Geburtstagsparty mitfeierten und keine Anzeichen von Erschöpfung zeigten, danach aber zwei Wochen lang keine Termine mehr wahrnehmen können, weil sie so erschöpft sind.

Ich lebe mit vielen Menschen, die so funktionieren. Am meisten mit meinen Kindern. Sie sind mit einem ADHS und einer kognitiven Behinderung beide neurodivergent, was so viel bedeutet wie: Ihre Gehirnfunktionen weichen von dem ab, was die Gesellschaft als «normal» oder «neurotypisch» definiert. Auch viele meiner Freund:innen und Arbeitskolleg:innen haben ein ADHS, sind im Autismus-Spektrum oder leben mit einer psychischen oder chronischen Erkrankung. Ich selbst würde mich ebenfalls als leicht neurodivergent bezeichnen, meine ADHS-Abklärung steht auf der To-Do-Liste. Das Thema «Kräfte abschätzen» begleitet mich also sowohl persönlich als auch im Umgang mit den Menschen um mich.

Durch das wunderbare Buch «Anders nicht falsch», in dem die Textilkünstlerin Maria Zimmermann von ihrem Autismus berichtet, bin ich diesbezüglich wieder einmal mit der «Spoon-Theory» oder «Löffeltheorie» in Berührung gekommen. Diese war mir schon oft Helferin, um empathischer und achtsamer mit mir und meinem Umfeld zu sein.

Marah Rikli
Die Löffeltheorie veranschaulicht: Manche Menschen sind bereits um 10 Uhr morgens erschöpft, andere erst um Mitternacht.

Die Theorie stammt von der US-amerikanischen Bloggerin und Betroffenen Christine Miserandino. Ihren englischsprachigen Blog hat sie nach einem Satz benannt, den sie oft in ihrem Leben gehört hat: «ButYouDontLookSick.com» («Aber du siehst gar nicht krank aus»). Sie entwickelte die Löffeltheorie, um zu erklären, was unsichtbare Behinderungen oder Krankheiten im Alltag bedeuten. Die Theorie funktioniert so: Am Morgen bekommen alle Menschen gleich viele Löffel Energie, zum Beispiel 25. Dann schreibt man jeder Aktivität eine bestimmte Anzahl Löffel zu, die dadurch verbraucht werden.

Neurotypische Menschen brauchen zum Beispiel für das Duschen einen Löffel Energie, für die Busfahrt vielleicht fünf und für die Arbeit zwölf. Am Abend sind die Löffel unter Umständen alle aufgebraucht, vielleicht haben sie aber auch noch welche übrig.

Marah Rikli
Nicht alle Frauen können sich bei einem Vorgesetzten für sich selbst und gegen Diskriminierung wehren, weil sie zum Beispiel wegen ihrer Krankheit, ihrer Behinderung, ihrer Neurodivergenz schon all ihr Kapital an Löffeln verbraucht haben.

Neurodivergente Menschen oder Menschen mit Behinderungen brauchen hingegen ein Vielfaches mehr an Löffeln für diese Tätigkeiten. Das Duschen kann manche schon zehn Löffel kosten, Busfahren vielleicht zwölf und das Arbeiten noch mehr. Wie viel, ist von Mensch zu Mensch und von Tag zu Tag individuell. Die Löffeltheorie veranschaulicht: Manche Menschen sind bereits um 10 Uhr morgens erschöpft, andere erst um Mitternacht.

Die Löffeltheorie hilft uns aber auch im Kampf um Gleichstellung. Denn sie zeigt, dass die Ressourcen und Lebenswelten von Frauen sehr unterschiedlich sind. Nicht alle Frauen haben dieselben Kräfte und Voraussetzungen, um zum Beispiel ökonomisch unabhängig vom Staat oder ihren Partner:innenschaften zu sein. Nicht alle können Karriere machen in unserem Arbeitssystem, das sehr viel Präsenz und Leistung voraussetzt. Nicht alle Frauen können sich bei einem Vorgesetzten für sich selbst und gegen Diskriminierung wehren, weil sie wegen anderem – zum Beispiel ihrer Krankheit, ihrer Behinderung, ihrer Neurodivergenz – schon all ihr Kapital an Löffeln verbraucht haben.

Marah Rikli
Umso wichtiger ist es, dass die Frauen, die nicht laut und überall präsent sind, von anderen Frauen, die mehr Energie und eine lautere Stimme haben, gehört werden.

Eine Frau mit Behinderung sagte mir kürzlich in einem Gespräch: «Es ist nicht immer eine Frage des Wollens, es ist auch eine Frage des Möglichen.» Sie sagte das, als es um das Teilnehmen an Veranstaltungen wie dem feministischen Streiktag oder Netzwerkanlässen ging. Sie erklärte mir, dass sehr viele Frauen mit Behinderungen teilnehmen möchten, der Aufwand aber zu gross sei. Sich nur schon für diesen «Ausflug» parat zu machen, alles einzupacken, was gebraucht wird, den Weg herauszusuchen, der ohne Barrieren sein muss, die öffentlichen Verkehrsmittel zu planen, abzuchecken, ob es vor Ort eine rollstuhlgängige Toilette gibt und der Saal sensorisch und neurologisch verträglich ist. Das alles koste sie so viel Energie, wie sie für einen ganzen Tag zur Verfügung habe. Sie hat deshalb bereits vor Abreise zum Streiktag keine Löffel mehr.

Umso wichtiger ist es, dass die Frauen, die nicht laut und überall präsent sind, von anderen Frauen, die mehr Energie und eine lautere Stimme haben, gehört werden. Dass Frauen, die gerade gut mit ihren Löffeln auskommen, auch die Lebenswelten von denen berücksichtigen, die das nicht können im Moment. Denn sonst besteht die Gefahr, dass wir sehr viele Frauen zurücklassen und es – wie im Patriarchat üblich – nur noch um die lautesten, stärksten und selbstbewusstesten geht. Und diese Suppe möchte ich am Schluss nicht auslöffeln.

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