«Können Sie mich bitte nicht anfassen?», schrie ich vor Kurzem einem Mann ins Gesicht, der mir im Zug an den Hintern fasste, als ich durch die Verbindung zweier Wagen ging. Wir befanden uns im vollen Zug von Bern nach Zürich zu Pendlerzeiten. Mein Herz pochte vor Wut. Die Schiebetür zum nächsten Wagen war geöffnet, sodass man mich mit Sicherheit gehört hatte.
Als ich an den vollen Zugabteilen vorbeiging, erntete ich den mitleidigen Blick einer Frau. Andere widmeten sich ihren Handys, als hätten sie nichts mitbekommen. Der Typ hinter mir hob demonstrativ die Hände, als wäre nichts passiert. Niemand sagte etwas, dabei hatten gerade mindestens acht Personen in zwei vollen Abteilen den Übergriff mitbekommen.
Ich fühlte mich hilflos und war enttäuscht von so wenig Zivilcourage. Wenigstens hatte ich mich gewehrt, wenn auch mit einer viel zu höflichen Frage. Höflichkeit ist definitiv fehl am Platz, wenn man sich als Opfer sexueller Belästigung zu wehren versucht.
Was ich schildere, ist leider nur einer von vielen Vorfällen aus den letzten Monaten und Jahren, in denen ich in der Öffentlichkeit ungewollt angefasst, angepfiffen oder grenzüberschreitend angesprochen wurde. Wenn ich mit Frauen darüber spreche, schildern die meisten ähnliche Erlebnisse. Ein alter Mann, der sich im leeren Bus an meine Kollegin schmiegt. Ein Mann, der im gegenüberliegenden Zugteil zu onanieren beginnt. Vier Männer, die bei Sonnenuntergang am vollen Strand eine Frau mittleren Alters belästigen – ausser meiner Freundin und mir hat niemand reagiert.
Es scheint, als würde das auch 2024 noch immer zum Frausein gehören. Und gleichzeitig war ich bisher bei jeder Belästigung froh, dass es «nur» dabei geblieben und nichts Schlimmeres passiert ist.
Wir haben ein Problem. Täter sind vor allem Männer, Opfer überwiegend Frauen. Das untermauern Zahlen aus Befragungen und Anzeigestatistiken – wobei die Dunkelziffer bei sexuellen Delikten gross ist, weil die meisten Opfer keine Anzeige erstatten.
Der Bundesrat hat vor zwei Jahren 23 Befragungsstudien zu sexueller Belästigung aus der Schweiz auswerten lassen. Ergebnis: 20 bis 60 Prozent der Frauen haben sexuelle Belästigung erfahren. Mindestens jede fünfte Frau hat einen sexuellen Übergriff erlebt. Städte mit regem Nachtleben haben höhere Opferraten als kleine Gemeinden.
Unabhängig davon, ob man die gesamte Schweizer Bevölkerung, nur Jugendliche oder nur den Arbeitsplatz betrachtet – Frauen leben mit einem zwei- bis zehnmal höheren Risiko als Männer, sexuell belästigt zu werden. Am häufigsten finden sexuelle Belästigungen auf der Strasse und im öffentlichen Verkehr statt. Mehr als ein Drittel der jungen Frauen in Bern und Zürich wurde schon im Tram oder Bus sexuell belästigt.
Ich fühle mich oftmals nicht sicher, wenn ich abends alleine unterwegs bin. Wenn ich im Sommer für eine Party etwas mehr Ausschnitt oder einen kurzen Rock trage, werfe ich mir für den Weg ein langes Hemd oder ein T-Shirt meines Vaters über. Auf dem Nachhauseweg teile ich meinen Standort. Lieber kaufe ich einen neuen Drink, als meinen weiter zu trinken, wenn ich ihn kurz aus den Augen gelassen habe – aus Sorge, jemand könnte etwas reingeschüttet haben. Das kann’s doch nicht sein. Es ist zutiefst ungerecht, dass wir möglichen Opfer uns schützen müssen, während die Täter unbeschwert durchs Leben gehen, ohne sich um die eigene Sicherheit sorgen zu müssen.
Was tun also bei sexueller Belästigung im öffentlichen Raum? Das fragte ich mich nach den Vorfällen in letzter Zeit.
Bei meiner Recherche habe ich Tipps und Handlungsempfehlungen auf Infoseiten, von Fachpersonen und von Betroffenen gefunden. Hier die für mich wichtigsten:
- Wenn du es schaffst, dann versuche, dich in der Situation zu wehren. Am besten laut und bestimmt. Du musst nicht höflich bleiben. Niemand darf deine Grenzen überschreiten. Bei einer unbekannten Person schaffst du mit der Sie-Form Distanz.
- Wenn du es nicht schaffst, dich zu wehren, dann mach dir keine Vorwürfe. Nicht du hast dich falsch verhalten, sondern die Person, von der die Belästigung ausging. Auf einer (kantonalen!) Seite steht, dass ein Nicht-Reagieren als stille Zustimmung aufgefasst werden könne. So ein Blödsinn! Victim Blaming pur. Gerade bei sexuellen Übergriffen erstarren die Opfer häufig, sodass es für sie körperlich nicht möglich ist, sich zu wehren. Nur Konsens darf als Zustimmung gewertet werden.
- Deine Sicherheit hat oberste Priorität. Manchmal ist es sicherer, dich aus der Situation zu entfernen und Hilfe zu holen.
- Sprich die Personen rundherum an. Weise sie laut darauf hin, was gerade passiert oder passiert ist. Sag, dass sie dir helfen sollen.
- Wenn du eine Grenzüberschreitung gegenüber einer anderen Person beobachtest, dann handle. Schau hin. Geh zur Person, stell dich neben sie und setz dich für ihren Schutz ein. Ruf die Polizei, wenn die Belästigung andauert oder die Situation es erfordert.
- Falls du dir nicht sicher bist, ob es sich um eine Belästigung handelt oder nicht, dann geh trotzdem zu den Personen hin und beobachte kurz die Situation. Du darfst die vermeintlich belästigte Person im Zweifelsfall auch fragen, ob das mit ihrem Einvernehmen geschieht, und ihr deine Hilfe anbieten.
- Das Empfinden des Opfers ist ausschlaggebend, nicht die Absicht der belästigenden Person. Es kommt nicht darauf an, wie sie es gemeint hat, sondern was passiert ist und was es bei der belästigten Person ausgelöst hat.
- Sexuelle Belästigung ist eine Straftat. Da es sich um ein Antragsdelikt handelt, hast du ab dem Tatzeitpunkt drei Monate Zeit, um Anzeige zu erstatten. Bei schlimmeren Übergriffen ist das anders. Wenn du dir unsicher bist, ob du den Täter oder die Täterin anzeigen kannst und möchtest, stehen dir Opferberatungsstellen zur Verfügung. Dort kannst du dich unverbindlich beraten lassen. Verschiedene Schweizer Städte bieten zudem anonyme Meldestellen an.
Reden wir über sexuelle Belästigung. Teilen wir unsere Erfahrungen, unsere Tipps und unsere Kraft. Und deswegen nehme ich meinen Mut zusammen und schreibe diese Kolumne. Zuerst hatte ich Angst, dass man es als Schwäche sehen könnte, dass ich Opfer von sexueller Belästigung wurde. Aber ich wurde Opfer, weil andere Personen sich zu Tätern machten. Deswegen bin ich kein Opfer und sicher nicht schwach.
Sollte ich wieder Belästigung erfahren, nehme ich mir vor, laut und bestimmt zu schreien: «Fassen Sie mich nicht an!»