Ende September veröffentlichte Netflix den Film «Blonde» – eine fiktive Erzählung über das Leben und Sterben der Hollywood-Ikone Marilyn Monroe mit Ana de Armas in der Hauptrolle. Er wird bereits als Anwärter für die Oscars gehandelt und erhielt an der Premiere in Venedig Standing Ovations.
Gleichzeitig wird er von (meist männlichen) Kritiker:innen komplett zerrissen. Der Film sei voyeuristisch, ergötze sich an der Gewalt, die Monroe widerfahren ist, habe mit der Realität nichts gemeinsam und stelle die Ikone als hilfloses und dummes Opfer dar.
Ich habe «Blonde» vor einigen Tagen gesehen und muss zugegeben: Der Film ist wirklich schwer zu ertragen! Auf einer Länge von 2 Stunden und 46 Minuten reiht er ein traumatisches Erlebnis an das nächste: Von Schlägen in der Partnerschaft über Schwangerschaftsabbrüche bis hin zu Vergewaltigung ist so ziemlich alles mit dabei, was die Psyche verstört. Damit ist der Film aber nicht allein: Zahlreiche Klassiker bringen Gewalt seit Jahren auf die Kinoleinwand, ohne deswegen von der Kritik zerrissen zu werden. Schon mal von «American Psycho» oder «The Girl with the Dragon Tattoo» gehört? Eben.
Und ja, der Film ist wirklich keine Autobiografie. Er basiert auf dem fiktionalen gleichnamigen Buch der Schriftstellerin Joyce Carol Oates, welches im Jahr 2000 erschien und 2001 für einen Pulitzer-Preis nominiert wurde. Auch diesbezüglich ist «Blonde» aber keine Ausnahme, im Gegenteil. Auch Filme wie «Walk the Line» über die Liebe zwischen den Country-Legenden June Carter und Johnny Cash oder Serien wie «The Crown» über das Leben von Queen Elisabeth II mischen Fiktion mit Realität, werden dafür aber gar nicht oder nur am Rande kritisiert.
Was unterscheidet also «Blonde» von diesen Beispielen?
Dazu habe ich zwei Hypothesen, die ich unter dem Titel «Fast alle Frauen-Hypothesen» zusammenfassen möchte.
Hypothese 1: Die Kritiker können die Dekonstruktion ihrer Wichsvorlage nur sehr schwer ertragen.
Wer schon einmal mit Männern über Pornografie oder Prostitution gesprochen hat, weiss, was ich meine. Die Reaktionen sind nämlich immer die gleichen.
Erstens: Sie stellen klar, dass sie natürlich wissen, dass «fast alle» Frauen aus Zwang oder Not heraus in diesen Berufen landen. Aber: Sie seien sich ganz sicher, dass einige wenige das auch machen, weil sie tatsächlich Spass daran hätten!
Zweites: Sie betonen – wenn sie denn zu den wenigen Mutigen gehören, die zugeben, schon einmal im Puff gewesen zu sein–, dass «fast alle» Sexarbeiter:innen sich zwar vor ihren Freiern ekeln würden, das sei ja klar. In ihrem speziellen Fall sei die betreffende Frau aber ganz eindeutig froh gewesen, für einmal einen halbwegs attraktiven Klienten bedient zu haben. Sie habe mit ihnen deswegen sogar ein wenig Spass an ihrer Arbeit gehabt.
Es scheint Männern wichtig zu sein, sich vorzumachen, mit ihrer Geilheit nicht alleine zu sein. Dass sich dieser Effekt auch auf das wohl grösste Sexsymbol der modernen Zeit erstreckt, erscheint mir mehr als wahrscheinlich. Die Vorstellung, Marilyn könnte aus Zwang, Trauma oder Kalkül heraus «Every Baby needs a Daddy» gestöhnt haben, passt mit dem männlichen Selbstverständnis von sich als Stier nicht zusammen. Also wird diese Option wegkritisiert.
In «The Girl with the Dragon Tattooo» und «American Psycho» ging es notabene nicht um Sexsymbole.
Hypothese 2: Die Kritiker halten die Vorstellung nicht aus, dass ihre Mütter, Töchter, Partnerinnen und Schwestern schon mal Opfer von sexualisierter Gewalt geworden sind.
Wer schon einmal mit Männern über die Häufigkeit von sexuellen Übergriffen gesprochen hat, weiss wiederum, was ich meine. Ich tue das recht oft, und auch hier sind die Reaktionen oft die gleichen. Wenn ich sage: Es ist allen Frauen in der einen oder anderen Form schon passiert, dann sagen die Männer mit beinahe verzweifelter Bestimmtheit: «fast allen» Frauen!
Ich habe mich lange gefragt, warum sie das tun. Welche seltsame Beruhigung aus der Vorstellung resultiert, dass es vielleicht irgendwann irgendwo eine sehr behütete Frau gegeben haben könnte, die im hohen Alter das Zeitliche gesegnet hat, ohne je Belästigungen erfahren zu haben. Bis mir irgendwann klar wurde: Es geht um die Frauen, die sie lieben. Männer halten die Vorstellung nicht aus, dass Frauen, die ihnen nahestehen, schon Opfer geworden sind. Darum beharren sie auf diesem verzweifelten «fast alle».
Wenn sie nun realisieren müssten, dass auch der Erfolg, die Macht und der Reichtum einer Marilyn Monroe sie nicht vor sexualisierter Gewalt hat schützen können (was übrigens unbestritten ist), dann müssten sie auch erkennen, dass selbiges ihren Müttern, Töchtern, Partnerinnen und Schwestern ziemlich sicher bereits passiert ist.
In diesem Sinne spielt es für mich keine Rolle, wie viel Wahrheit und wie viel Fiktion in «Blonde» steckt. Es geht nämlich gar nicht um Marilyn! Es geht um die Lebensrealität von fast allen Frauen in Hollywood, fünf Jahrzehnte vor Harvey Weinstein und #MeToo.
Das einzusehen, bedeutet, endlich auf dem gleichen, desillusionierten Wissensstand wie wir Frauen zu sein. Und das tut weh, ich weiss!