Seit genau einem Jahr schreibe ich hier meine Kolumne. Ich habe über Mansplaining sinniert, mich als Klugscheisserin geoutet, genderstereotype Werbung am Black Friday verunglimpft und mich gefragt, ob ich als Frau schon mal sexuell übergriffig gegenüber einem Mann geworden bin. Ich habe durchs Schreiben erkannt, dass mich der Menstruationsurlaub in Spanien trotz anfänglicher Bedenken doch eine gute Idee dünkt und mich über Männerausrüstung für Rekrutinnen in der Schweizer Armee genervt.
Kurz: Ich habe gefühlt jeden erdenklichen feministischen Gedanken zuerst gedacht und danach erschöpfend und verständlich beschrieben – dachte ich zumindest!
Nur musste ich kürzlich mal wieder erkennen: So begabt ich im schriftlichen Schildern von komplexen, gesellschaftlichen Gender-Strukturen auch bin, so grandios scheitere ich häufig an der alltäglichen Bewältigung derselben. Oder einfacher: Praktisch bin ich gar nicht mal so klug, wie ich theoretisch denke.
Und von einer solchen kleinen Niederlage im Alltagsfeminismus der Rosanna Grüter möchte ich euch heute berichten.
Kürzlich war ich mit meinem Freund auf einer richtig doofen Party. Einer Party, wie ich sie lange nicht mehr erlebt habe: Mit gefährlich dreinschauenden Türstehern, Jägermeister-Shots und Schlägereien. Mit Typen, die sich von hinten an Frauen herantanzen – oder eher: heranschleichen – und mit Frauen, die auf dem Klo ernsthafte Gespräche darüber führen, warum einer der Anschleich-Tänzer letztens nicht zurückgeschrieben hat. Eine Party, die mich mit der Schlichtheit ihrer Besucher:innen traurig gemacht hat. Elend gar, irgendwie.
Mein Freund hat dies ähnlich empfunden, und unsere Laune war entsprechend schlecht. Warum wir nicht einfach gegangen sind, erschliesst sich uns beiden immer noch nicht – auch nach etlichen Gesprächen, die wir seither über den Abend geführt haben. Tatsache ist: Wir blieben und hatten in der Folge eins der grössten Missverständnisse unserer noch recht jungen Beziehung.
Der Auslöser war – wie so oft – ein anderer Mann, der Interesse an mir bekundete. Und bei dieser Formulierung fängt das Problem schon an. Im Grunde genommen bekundete dieser andere Mann nämlich nicht einfach Interesse an mir, sondern ignorierte gleichzeitig, dass ich umgekehrt keinerlei Interesse an ihm zeigte. Ich wartete zu dem Zeitpunkt, an dem er mich ansprach, vor der Toilette auf meinen Freund, hatte absolut keinen Bock auf ein Gespräch mit einem anderen Typen und ging entsprechend kein bisschen auf seine Avancen ein. Ich antwortete auf seine Fragen einsilbig mit Ja oder Nein, drehte mich von ihm weg, schaute ihm kein einziges Mal ins Gesicht und sprang meinem Freund buchstäblich an den Hals, als dieser endlich zurückkam.
«Damit hat sich das erledigt», dachte ich, denn: Wenn immer Typen in der Vergangenheit ein klares «Nein» meinerseits ignoriert hatten, so hatten sie doch meist dasjenige meines Partners akzeptiert. Und zwar selbst dann, wenn ich den Partner in Form eines «Ich han im Fall en Fründ» nur erfand. Ich habe nämlich lernen müssen: Das Vorhandensein eines (hypothetischen) männlichen «Besitzers» scheint von Typen ernster genommen zu werden als das deutliche Nein der betreffenden (realen) Frau.
So verhasst mir dieser Trick auch ist, so verdattert war ich doch, dass er dieses Mal kein bisschen funktionierte. Der Typ liess sich nicht abschrecken, im Gegenteil! Stur blieb er erst dicht neben uns stehen, während wir redeten. Mal beäugte er hoffnungsvoll mich, mal genervt meinen Freund, in steter Erwartung, dass dieses andere, unerwünschte Männchen endlich Leine ziehen möge.
Es war Darwinismus pur.
Irgendwann fühlte ich mich dann zu unwohl, und ich schlug meinem Freund vor, wir sollten doch raus, eine Zigarette rauchen gehen. Was wir dann auch taten. Und das allererste, was mein Freund zu mir beim Rausgehen sagte, war: «Hab ich das jetzt richtig verstanden? Hat der die ganze Zeit darauf gewartet, dass ich wieder gehe?»
Ich sagte: «Ja», und in diesem Augenblick begannen bei mir gleichzeitig drei sehr unterschiedliche emotionale Programme abzulaufen.
Erstens: Meine Einschätzung der Situation («Ich werde hier belästigt») wurde dadurch validiert, dass mein Freund dasselbe sah.
Zweitens: Ich war schockiert darüber, dass auch ich offenbar einen männlichen Zeugen benötige, um dem Wort einer Frau zu trauen – sogar dann, wenn diese Frau ich selbst bin! Das ist übrigens ein sehr altes Narrativ: Das Wort (oder in diesem Fall: der Gedanke) einer Frau gilt oft weniger als dasjenige eines Mannes. Darum brauchen Frauen in Saudi-Arabien einen männlichen Zeugen, um ihre Vergewaltigung anzeigen zu können. Darüber habe ich hier bereits einmal geschrieben.
Und drittens: Ich fühlte mich ein bisschen im Stich gelassen. Wenn mein Freund die Situation doch genauso einschätzte wie ich (und Männer dem «Nein» eines Mannes in der Regel mehr trauen als dem «Nein» einer Frau), warum hatte er mich dann damit alleine gelassen?
Natürlich war ich im Augenblick nicht in der Lage, meine widerstreitenden Gefühle ebenso sachlich und erschöpfend zu analysieren, wie ich das jetzt aus der Retrospektive kann. Das Ganze passierte – wie es bei solchen Situationen oft der Fall ist – innerhalb weniger Sekunden. Meine Reaktion war reflexartig und automatisiert.
Dass etwas ganz und gar nicht stimmte, wurde mir erst bewusst, als wir uns draussen endlich diese Zigarette ansteckten, kurz das eben Erlebte besprachen und mein Freund dann folgenden Satz zu mir sagte: «Ich bin nicht wütend auf dich.»
Und da wurde ich wütend.
In diesem Augenblick realisierte ich nämlich, was wir hier grad durchspielten: Das Einmaleins des Victim Blamings! Es kam mir vor, als wolle mein Freund dafür gelobt werden, dass er sich nicht wie ein sexistisches Arschloch benahm und mir die Schuld an der Situation in die Schuhe schob. Und ich sollte darüber dann bitte auch noch dankbar sein.
Quizfrage: Hätte mir der andere Mann draussen vor der Toilette eine Ohrfeige gegeben, wäre irgendwer auf die Idee gekommen, mir zu versichern, das wäre nicht meine Schuld? Wohl kaum. Es wäre völlig klar gewesen, dass ich das Opfer einer unprovozierten Aggression geworden bin.
So klar konnte ich mich aber – Überraschung! – einmal mehr nicht in Worte fassen, angetrunken und übernächtigt, wie ich war. Mein Freund muss aus allen Wolken gefallen sein: Er sagt, es sei alles ok, und als Reaktion bricht ein Donnerwetter über ihn hinein. Und auch meine woken, feministischen Freundinnen, die dabeistanden, verstanden nicht, warum ich so reagierte.
Long Story Short: Wir stritten uns und gingen (endlich!) nach Hause. Erst im Nachhinein, beim gemeinsamen Rekapitulieren der Situation, verstanden wir beide, was passiert war.
Und genau das passiert mir (und wohl nicht nur mir!) leider ziemlich häufig: Ich reagiere auf sexistische Alltagssituationen intuitiv gesellschaftskonform, gemäss einem Narrativ, das mir seit Geburt eingetrichtert wird. Gleichzeitig merke ich allerdings, dass etwas an der Situation und meiner Reaktion darauf nicht stimmt. Und dieser Unwille wiederum entlädt sich dann in unspezifischer Wut auf die Männer, die mir nahestehen.
Solange ich für mein eigenes Seelenheil darauf angewiesen bin, solche Momente im Nachhinein rational und emotional für mich zu bearbeiten, werde ich euch als Kolumnistin wohl erhalten bleiben.