Ein Mann habe sich «an einer schlafenden Frau zu schaffen gemacht», ein Waadtländer sei «wegen Orgien mit Minderjährigen» verurteilt worden. Eine junge Frau «stirbt nach Streit mit Freund», ein 45-jähriger Mann hat «Sex mit seiner minderjährigen Freundin». In der Stadt Zürich gebe es einen «Genderkonflikt» und Stalking ist ein «Beziehungsdrama». So gelesen in diversen Schweizer Medien innerhalb der letzten Monate. Weiter liest man regelmässig über «Sex-Attacken», «Sex-Tätern», «Familiendrama» und «erweitereten Suizid» oder «Eifersuchtstaten».
Wahrscheinlich berühren dich diese Zitate und Begriffe nicht sonderlich. Sondern lösen im Gegenteil wohl eher voyeuristisches Interesse aus? Und höchst wahrscheinlich hast du beim Lesen auch nicht an Gewalt und Mord, an Machtmissbrauch, Dominanz und Kontrolle oder an sexuelle Belästigung und Vergewaltigung gedacht, oder? Dabei behandeln alle oben genannte Zeitungsartikel Fälle häuslicher und sexualisierter Gewalt an Kindern oder Frauen.
Die mediale Berichterstattung in der Schweiz über diese Themen hat sich in den letzten Jahren zwar stetig verbessert Sie bedient sich aber leider immer noch zu oft einer Sprache, die Gewalt verharmlost, Opfer abwertet und Täter entlastet. Das ist höchst problematisch, denn Sprache formt unser Denken. Sprache schafft unsere Wirklichkeiten und hat die Macht, Emotionen und Wertvorstellungen zu vermitteln. Somit tragen die Medien eine grosse Verantwortung in Bezug auf unseren gesellschaftlichen Umgang mit und die Prävention von geschlechtsspezifischer Gewalt.
In einem Land, in dem wir davon ausgehen müssen, dass hochgerechnet eineinhalb Millionen Frauen häusliche Gewalt in der Paarbeziehung erfahren, dass 800’000 Frauen sexuell genötigt, 430’000 vergewaltigt und 2.3 Millionen schon sexuell belästigt wurden und dass jedes siebte Kind sexualisierte Gewalt erfährt, müssen wir alle Verantwortung für einen sensiblen Umgang mit der Thematik übernehmen. Eine Verantwortung, die meines Erachtens von den Medienschaffenden nicht prioritär genug behandelt wird. Das muss sich ändern.
Die feministische Medienforscherin Brigit Geiger und die Genderexpertin Birgit Wolf hielten schon 2014 fest, dass eine unsensible Berichterstattung den Betroffenen durch (implizite) Schuldzuweisungen zusätzlich erheblich schadet. Sie hindert Betroffene in der Bewältigung der Gewalterfahrung und reproduziert und zementiert Vergewaltigungsmythen in der Gesellschaft.
Dies hat auch eine aktuelle deutsche Studie aufgezeigt: Wie über geschlechtsspezifische Gewalt berichtet wird, hat einen grossen Einfluss darauf, wie wir diese Gewalt wahrnehmen und wie wir damit umgehen. In dieser Studie wurden den Teilnehmenden einer Online-Befragung jeweils vier Versionen eines Zeitungsartikels vorgelegt, in dem über häusliche Gewalt an einer Frau berichtet wurde. Die Resultate in der Kürze: Je verharmlosender die Gewalt umschrieben wurde, desto eher machten Leser:innen die betroffene Frau mitverantwortlich für die Tat und desto weniger Mitgefühl hatten sie für sie. Je mehr im Artikel die Täterperspektive eingenommen wurde, desto mehr Mitgefühl hatten die Leser:innen mit dem Täter und desto weniger Verantwortung gaben sie ihm für die Tat.
Dass die Medien einen grossen Einfluss haben, ist auch eine gute Nachricht. Denn das heisst, dass sensible Berichterstattung über Gewalt unsere Gesellschaft positiv beeinflussen kann.Nicht zuletzt wird das auch von der Istanbul-Konvention explizit von den Schweizer Medien gefordert: Sie sollen Richtlinien festlegen, um Gewalt gegen Frauen vorzubeugen und die Achtung der Würde der gewaltbetroffenen Frauen zu erhöhen.
Was konkret ist also problematisch in der medialen Berichterstattung, und wie kann es besser gemacht werden? Das fasse ich hier gerne zusammen:
Erstens: Benutzt keine verharmlosenden Umschreibungen für Gewalt. Nennt Gewalt beim Namen: Häusliche oder sexualisierte Gewalt, Vergewaltigung, Tötung, Missbrauch und so weiter. Schreibt «eine Frau schänden» und nicht «sich an einer schlafenden Frau zu schaffen machen», «sexualisierte Gewalt an Minderjährigen» und nicht «Orgien». Eine junge Frau wurde «getötet» und ist nicht «gestorben», ein 45-jährigen Mann «missbraucht» oder «vergewaltigt» die Minderjährige und hat nicht «Sex» mit ihr. Sexuelle Belästigung ist eine Form sexualisierter Gewalt und definitiv kein «Genderkonflikt», Stalking ist kein «Beziehungsdrama», sondern «häusliche Gewalt».
Zweitens: Übernehmt auf keinen Fall die Täterperspektive. Oft liest man, er hat aus Leidenschaft, aus Liebe, aus Lust oder aus Eifersucht geschlagen, getötet oder vergewaltigt – und noch dazu, weil er von der Frau dazu provoziert wurde. Eifersucht, Liebe, Lust – Gefühle, die wir alle kennen und für die wir Verständnis aufbringen, oder? Werden nun diese «Gründe» für die Gewalt in der Berichterstattung übernommen (er stalkte sie, «weil er eifersüchtig war»; er tötete sie, «weil sie ihn verlassen wollte»), übernimmt man die Denkweise des Täters und unterschlägt, dass er bewusst Gewalt ausgeübt hat, weil er sich dazu berechtigt fühlte.
Zudem betreibt man damit eine Täter-Opfer-Umkehr: Man impliziert, dass das Opfer durch anderes Verhalten die Gewalt hätte verhindern können, das Opfer also mitverantwortlich ist für die Gewalt. Unterscheidet zwischen dem Auslöser einer Tat und ihrer Ursache. Trennungsabsichten können Auslöser für Gewalttaten sein, aber die Ursachen sind viel komplexer und liegen etwa in misogynen, patriarchalen Besitzansprüchen. Und es gilt klar zu benennen, dass allein die gewaltausübende Person für die Tat verantwortlich ist und die Gewalt durch nichts legitimiert wird.
Drittens: Wertet Opfer nicht ab. Lasst Betroffene zu Wort kommen, reduziert sie nicht auf ihre Gewalterfahrungen und berichtet auch von Menschen, die einen Weg aus der Gewalt gefunden haben. Solche ermächtigenden Schilderungen, mit denen Perspektiven für ein gewaltfreies Leben aufgezeigt werden können, sind enorm wichtig für Betroffene.
Viertens: Stellt Gewalt an Frauen nie als Einzelfälle dar. Kontextualisiert und macht auch bei Fallberichten Gewalt an Frauen als gesellschaftliches Problem sichtbar. Zeigt auf, dass geschlechtsspezifische Gewalt kein individuelles Problem ist, sondern ein gesamtgesellschaftliches, das uns alle etwas angeht. Ihr habt nicht viele Zeichen zur Verfügung? Macht nichts! Das strukturelle Ausmass lässt sich auch auf wenig Platz aufzeigen, indem man beispielsweise nach der Beschreibung eines Falls hinzufügt, dass in der Schweiz jede zweite Woche eine Frau von ihrem (Ex-)Partner getötet wird oder dass jede achte Frau in der Schweiz schon vergewaltigt worden ist. Mit nur einem Satz zeigt ihr damit auf, dass das Problem viel grösser ist, als viele denken.
Medien sind nicht nur ein Abbild unserer Gesellschaft. Medien beeinflussen die Gesellschaft, sie beeinflussen, wie wir über Sachen denken. Deshalb brauchen wir Medien, die mit ihrer Berichterstattung über Gewalt an Frauen dazu beitragen, dass wir unsere gewaltverharmlosenden und frauenabwertenden Haltungen entlernen und die ein Umdenken in der Gesellschaft aktiv unterstützen und fördern.