Als ich am 25. April 2024 erfuhr, dass der Fall von Filmproduzent Harvey Weinstein im Bundesstaat New York neu aufgerollt wird, war mein erster Impuls: Scheiben einschlagen. Schiessen lernen. Schmerzen zufügen. Wem? Eigentlich egal. Den Männern, dem amerikanischen (Un-)Rechtssystem, der patriarchalen Welt, die die Rechte von uns Frauen mit Füssen tritt.
Zur Erinnerung: Harvey Weinstein tat unzähligen Frauen sexualisierte Gewalt an, unter anderem Stars wie Angelina Jolie, Salma Hayek oder Rosanna Arquette. Ab 2017 begannen viele seiner Opfer ihr Schweigen zu brechen und lösten damit die weltweite #MeToo-Bewegung aus. Der frühere Filmproduzent wurde wegen Sexualdelikten in New York zu 23 Jahren Gefängnis und in Kalifornien zu 16 Jahren Haft verurteilt.
Doch statt auf Gewalt zu setzen, holte ich – typisch Frau, chronisch besonnen – einmal tief Luft und vertiefte mich in die Hintergründe des Falls. Und die könnten nicht schlimmer sein.
Die einzige gute Nachricht zuerst: Weinstein sitzt noch immer im Gefängnis. Weil er nämlich eben auch in Kalifornien wegen mehrfacher sexueller Angriffe verurteilt wurde.
Die schlechte: Auch gegen dieses Urteil haben er und seine Anwält:innen Berufung eingelegt, das Verfahren läuft. Und wenn man sich anschaut, was in New York passiert ist, dann scheint es durchaus denkbar, dass Harvey Weinstein sich gesamthaft «aus der Affäre» ziehen kann.
Was ich soeben nonchalant als «Affäre» bezeichnete, sind unzählige Fälle von Vergewaltigung und sexualisierter Gewalt. 87 Frauen haben Weinstein offiziell beschuldigt und vor Gericht gegen ihn ausgesagt, hunderte weitere haben sich öffentlich geäussert. In vielen Fällen war die Gewalt bereits verjährt, die Weinstein seinen Opfern angetan hatte. Eine juristische Verfolgung ist nach Ablauf dieser Frist nicht mehr möglich.
Just dieser Sachverhalt – die schiere Anzahl der Vorwürfe gegen Weinstein – ist nun ironischerweise der Grund, dass das oberste Gericht des Bundesstaates New York in einem knappen 4:3-Entscheid das Urteil gegen ihn kippte. Der Richter im ersten Prozess habe Aussagen von sogenannten «Molineux-Zeugen» oder «Zeugen für frühere schlechte Taten» zugelassen. Diese hätten nicht vorgebracht werden dürfen. Namentlich ging es um vier Frauen, die gegen Weinstein aussagten, obwohl sie nicht Teil der Klägerinnen-Gruppe waren.
Solche Aussagen sind in den USA seit einem Präzedenfall von 1900 nicht mehr erlaubt. Damals wurde der Schuldspruch wegen Mordes gegen den Chemiker Roland B. Molineux ein Jahr nach dem Prozess gegen ihn wieder aufgehoben. Der Grund: Die Staatsanwaltschaft hatte den Geschworenen Beweise für einen weiteren – nicht zur Anklage gebrachten – Giftmord vorgelegt. Dies wertete der Berufungsrichter als unrechte Beeinflussung der Jury. Seither haben gemäss geltendem US-amerikanischen Gewohnheitsrecht nur Zeug:innen, die selber Teil der Anklage sind, das Recht, auszusagen.
Das Präzedenzurteil Moulineux hat bis heute Gültigkeit – mit einer Ausnahme: Wenn die betreffenden Zeug:innenaussagen aufzeigen können, dass die Taten, die dem Angeklagten zur Last gelegt werden, keine Einzelfälle sind. Dass also beispielsweise ein bekannter Filmproduzent seine Macht systematisch dazu missbrauchte, jungen Frauen sexualisierte Gewalt anzutun.
Genau dieser Logik folgte die ursprüngliche Argumentation der New Yorker Staatsanwaltschaft im Falle Weinstein – zu Unrecht, wie das oberste Berufungsgericht nun entschied. Nun gibt es noch den Schuldspruch aus Kalifornien. Ohne ihn wäre Weinstein heute zwar nicht gerade ein freier Mann, aber auch kein verurteilter Vergewaltiger mehr – zumindest im Bundesstaat New York. Und zwar im Grunde, weil ZU VIELE Frauen Vorwürfe gegen ihn erhoben haben. Hätten mehr von seinen Opfern vor Gericht geschwiegen, wäre das nicht passiert.
Was für eine bittere, irrsinnige Pille zum Schlucken!
Für all die Frauen, die Weinsteins Gewalt überlebten.
Für all die Opfer von sexualisierter Gewalt, die nicht zu klagen wagten, weil sie wussten, was passieren wird.
Für alle, die es dennoch wagten und an «schwieriger Beweislage» und «im Zweifel für den Angeklagten» scheiterten.
Und für uns alle, die wir Teil des #MeToo-Movements waren und für einen kurzen Augenblick dachten, wir könnten wirklich die Welt verändern.
Wir alle sind nun wieder auf dem vernichtend harten Boden der Tatsachen gelandet, wo Einer allein nicht geglaubt wird, wenn es um sexualisierte Gewalt geht, und zu viele von unseren Stimmen offenbar Justitias Ohren betäuben.