Immer mehr Schweizer:innen entscheiden sich für ein Leben ohne Kinder. Jede vierte Frau in der Schweiz hat keine Kinder, bei Frauen mit Tertiärabschluss ist es jede Dritte. Bei den Männern fallen die Zahlen ähnlich aus, jedoch bleiben sie im Gegensatz zu den Frauen bei zunehmendem Bildungsstand konstant. Über die vielfältigen Gründe dafür haben wir in Teil I dieser Serie geschrieben. 

Durch den gesellschaftlichen Wandel haben «Kinderfreie» an Sichtbarkeit gewonnen – und ihr Lebensstil an Akzeptanz. Zumindest vordergründig. In Teil 2 dieser Serie haben wir über das sogenannte «Birth Strike Movement» berichtet, wenn Menschen aus Sorge um die Umwelt keinen Nachwuchs wollen. 

Kinderfreie Frauen werden von der Gesellschaft noch immer kritisiert, sie werden egoistisch und unvollständig genannt. Und dies nicht nur im Privatleben, sondern auch in der Politik. Der zukünftige amerikanische Vizepräsident JD Vance, ein Republikaner, hat in einem Interview demokratische Politiker:innen wie Kamala Harris und Alexandria Ocasio-Cortez als «Childless Cat Ladies» beschimpft. Als Cat Ladies gelten in dieser Wahrnehmung Frauen, die die klassische Mutterrolle nicht erfüllen – und ihre Fürsorge stattdessen einer Katze schenken. Das zeigt, wie eng verbunden das Bild der Frau noch immer mit der Mutterschaft ist. 

Nadine Gloor und Verena Brunschweiger sind kinderfrei, und das aus Überzeugung. Beide, sowohl die Zürcherin Gloor wie auch die Bayerin Brunschweiger, sind damit nicht nur auf Zustimmung gestossen. Damit sind sie nicht allein, wie Zahlen einer Studie der Dualen Hochschule Gera-Eisenbach zeigen: Demnach haben 68 Prozent der gewollt kinderfreien Frauen das Gefühl, sich für ihren fehlenden Kinderwunsch gegenüber Aussenstehenden rechtfertigen zu müssen. 

Verena Brunschweiger
Ich habe eine Freundin, die Kinder hat, verloren, was ich schade finde.

Selbst Freund:innen urteilen, wie Gloor und Brunschweiger berichten. Das geht nahe, weil Freundschaften und soziale Kontakte nicht nur wichtig sind, um den Alltag aufzuwerten, sondern auch die Gesundheit massgebend beeinflussen. Studien zeigen, dass Freundschaften das Immunsystem stärken und Herzerkrankungen vorbeugen. Nadine Gloor sagt dazu:

«Mein Umfeld ist geprägt von Kindern. Ich habe zwar einige Freund:innen, die ebenfalls keine Kinder wollen oder noch keine haben, aber die sind in der Unterzahl. Die Reaktionen waren unterschiedlich – von sehr wohlwollend und unterstützend über Stillschweigen bis zu Aussagen wie Du wirst alleine sterben

Nadine Gloor/Bild: zvg

Natürlich haben sich meine Freundschaften gewandelt. Ist ja logisch, da sich die Lebensumstände drastisch ändern, wenn jemand zum Elternteil wird. Ich pflege meine Freundschaften aktiv, ob mit Kindern oder nicht. Eine Freundschaft muss von beiden Seiten gewollt sein – geben sich beide Mühe, die Entscheidung der anderen zu akzeptieren, dann klappt’s.»  

Auch Verena Brunschweigers Freundschaften wurden durch ihre Entscheidung, kinderfrei zu leben, beeinflusst. Sie sagt: 

«Ich habe eine Freundin, die Kinder hat, verloren, was ich schade finde. Ich habe aber nach wie vor gute Freund:innen, die Eltern sind.

Ein guter Kumpel von mir hat beispielsweise zwei Kinder, mit ihm unternehme ich viel. Für mich ist wichtig: Zwei Kinder sind unter dem Replacement Level von 2.1, damit kann ich leben. Haben Menschen vier oder fünf Kinder, kann ich mir nicht vorstellen, mit ihnen befreundet sein zu können.

Verena Brunschweiger/Bild: zvg

Die tollsten Menschen habe ich durch meine Bücher über Kinderfreie gefunden. Das sind qualitativ hochwertigere Freundschaften. Die haben mehr Zeit.»

Die Moral des Kinderkriegens

Brunschweiger bezeichnet sich als «Antinatalistin». Antinatalist:innen finden es moralisch fragwürdig, Kinder zu bekommen, weil das Leben grundsätzlich mit Leid verbunden sei. Es herrsche eine Asymmetrie zwischen Freude und Leid, und es sei viel wahrscheinlicher, unglücklich als glücklich zu sein, argumentieren sie. Es sei nicht möglich, das Leid mit erfahrener Zufriedenheit zu kompensieren. 

Verena Brunschweiger
Wenn ich Leid vermeiden will, muss ich vermeiden, dass es so viele Menschen gibt.

Auch, dass Kinder vor der Entbindung nicht nach ihrem Einverständnis gefragt werden, ob sie geboren werden wollen, stellt laut dieser Philosophie ein grundsätzliches Problem dar. Gemäss David Benatar, einem der wichtigsten modernen antinatalistischen Philosophen, sei man als Eltern nicht nur für das Leid seiner eigenen Kinder verantwortlich, sondern auch für das Leid ihrer Nachfahren. 

Kurz: Antinatalismus propagiert ein langsames und friedfertiges Aussterben der Menschheit. Brunschweiger interpretiert die Philosophie so:

«Die antinatalistische Grundformel lautet: Wir vermeiden Leid. Nur: Das Leben beinhaltet prinzipiell Leid. Wenn ich Leid vermeiden will, muss ich folglich vermeiden, dass es so viele Menschen gibt. 

Niemand wird gefragt, ob er oder sie auf diese Welt will. Wenn Kinder vor ihrer Geburt diese Welt sehen könnten, würden sie vielleicht sagen lieber nicht. Ich finde es unverantwortlich, ein Kind einer so kaputten Welt auszusetzen. 

Während für Brunschweiger das Leben also voller Leid ist, sieht Gloor darin eine Chance. In den Worten von Gloor:

«Ich glaube nicht an einen göttlichen Plan, bei dem Seelen herumschwirren und darauf warten, einen Körper zu finden. Niemand fragt danach, geboren zu werden. Wenn sich Eltern für ein Kind entscheiden, ist das deren recht egoistische Entscheidung: Ich will Kinder. Ich will meine Werte weitergeben. Ich will das Elternsein erleben. Ich will meinen Stammbaum weiterführen. Ich will nicht alleine sein im Alter. Deshalb widerspreche ich dem Vorwurf, Kinderfreie seien egoistisch.

Trotzdem bezeichne ich mich nicht als Antinatalistin. Ich schätze das Leben sehr und betrachte es als Geschenk.»

«Mich hat der Gedanke an Adoption beruhigt»

Ins Argumentarium einer Antinatalistin passt es wie erwähnt nicht, mehr Menschen in die Welt zu setzen. Ein Kind zu adoptieren, wird hingegen als sinnvoll betrachtet. In der Schweiz werden jährlich nur rund 20 Kinder zur Adoption freigegeben. Der Weg zu einem Adoptivkind ist langwierig und teuer. Brunschweigers Gedanken dazu:

«Ich sage gerne ‹adopt, don’t breed›. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, zu adoptieren, jedoch bin ich auch kinderfrei glücklich. Ich habe viele Kinder in meinem Leben, dank Freunden und als Teilzeit-Gymnasiallehrerin. Ich bin ja auch ein riesiger Tierfan, habe aber selbst kein Haustier.»

Nadine Gloor
Ich bin kinderfrei, egal ob selber produziert oder adoptiert.

«Adoption finde ich grossartig», sagt auch Gloor. «So schenkt man einem bereits geborenen Kind ein Zuhause, statt ein neues auf die Welt zu setzen. Als ich sehr unsicher war bezüglich Kinderkriegen, hat mich der Gedanke an Adoption beruhigt. Dieser machte mich weniger abhängig von biologischen Faktoren. Aber das hat sich mit meiner Entscheidung, kinderfrei zu leben, erledigt. Ich bin kinderfrei, egal ob selber produziert oder adoptiert.»

Mutterschaft und Feminismus

Brunschweiger sei in ihrer Entscheidung, keine Kinder zu bekommen, durch Erlebnisse von anderen Frauen bestärkt worden, sagt sie. Deren Erzählungen hätten ihr die Herausforderungen des Frauseins vor Augen geführt:

«Ich bin Antinatalistin auch aus feministischen Gründen. Ich vermeide Leid für mich als Frau. Schwangerschaft und Geburt belasten den weiblichen Körper, unabhängig vom Verlauf. Der einzige, der von Kindern profitiert, ist der Mann, da Frauen noch immer den Grossteil der Care-Arbeit übernehmen.

Die kanadisch-amerikanische Feministin und Autorin Shulamith Firestone schrieb in den 1970ern in The Dialectic of Sex, dass das Herzstück der weiblichen Unterdrückung das Kinderbekommen und -aufziehen ist. Und die französische Schriftstellerin Simone de Beauvoir war der Meinung, dass man als Feministin sicher keine Kinder kriegt. 

Auch ich finde: Ich tue dem Patriarchat doch nicht den grösstmöglichen Gefallen, indem ich mich mit einem Kind selbst ausknocke.»

Nadine Gloor
Ich bin nicht weniger Frau, nur weil ich keine Mutter bin.

Auch für Gloor ist die Kinderfrage feministisch. Wenn auch aus anderen Gründen, wie sie erzählt:

«Mutter werden ist ein grosser Teil des Frauseins. Kinder zu kriegen ist nicht antifeministisch. Im Umkehrschluss ist es aber auch nicht unweiblich, keine Kinder zu haben. Ich bin nicht weniger Frau, nur weil ich keine Mutter bin. 

Das Problem der Ungleichstellung kommt meist nach dem Kinderkriegen – wenn viele Frauen in traditionelle Rollenbilder zurückfallen. Etwa, weil die Vereinbarkeit so anstrengend ist. Dann zementiert sich der Gender Pay Gap, der Gender Pension Gap, der Gender Care Gap. Das frustriert.»

Der Blick in die Zukunft

Altern ohne Kinder kann von der Angst begleitet sein, den Entscheid irgendwann rückgängig machen zu wollen. Und nicht mehr zu können. Eine im US-Bundesstaat Michigan durchgeführte Studie kam indes zum Resultat, dass gewollt kinderfreie Meschen ihre Entscheidungen eben nicht bereuen. Im Gegenteil: Ältere Eltern verspürten demnach einen stärkeren Wunsch nach Veränderung in ihrem Leben als ihre kinderlosen Altersgenoss:innen. 

Gloor ist Mitte dreissig. Rein biologisch gesehen hätte sie noch Zeit für Kinder. Sie ist aber glücklich mit ihrem Nein:

«Ich bereue meine Entscheidung nicht und denke auch nicht, dass sich das je ändern wird. Was man sich nie gewünscht hat, kann man nicht vermissen.»

Brunschweiger dagegen nähert sich dem Ende des Lebensabschnittes, in dem Familienplanung möglich ist. Für sie kein Problem:

«Heute bin ich 44, und mir geht es sehr gut mit der Entscheidung, ein kinderfreies Leben zu führen. Wenn ich sehe, wie sich alles verändert hat seit meinen Dreissigern – Klimakrise, Kriege, eine Pandemie – und wie sich alles in rasendem Tempo verschärft, bin ich froh, kein Kind zu haben, das all das ausbaden muss.»

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