Du forschst über die Verbindung zwischen Maskulinitäten und Militarismus: Wie beurteilst du Putins Verhalten unter diesem Gesichtspunkt?
Aus dieser Perspektive ist sein Verhalten wirklich kongruent. Er meint, dass sich Machtansprüche notfalls gewaltvoll durchsetzen müssen. Alles andere wäre eine Schwäche. In Putins patriarchalem Weltbild müssen Untergeordnete folgen: von der Frau bis zur Ukraine, die als verweiblicht dargestellt wird. Insofern ist die Ukraine seine Unterworfene, die es wagt, ein selbstständiger, freier Staat zu sein. Das ist ein Affront, der notwendigerweise mit Gewalt «wiedergutgemacht» wird.
Babys werden in U-Bahn Stationen geboren. Sind Frauen durch den Einmarsch und die Kriegsgewalt speziell bedroht?
Bei unserer Arbeit der geschlechterspezifischen Friedensförderung hadere ich immer mit dem Wort «speziell». Wenn speziell «mehr» heisst, dann Nein. Alle Menschen leiden unter dem Krieg – uns aber geht es darum, aufzuzeigen, wer wie leidet. Aus einer feministischen Perspektive sind das nicht nur die Frauen. Aber um auf die Frauen zu sprechen zu kommen: Ja, sie sind betroffen, weil sie beispielsweise alleine flüchten müssen, weil ihre Männer eingezogen worden sind und sie ihre Familien selber durchbringen müssen, auf die Care-Arbeit bezogen haben sie sehr oft noch pflegebedürftige Eltern und können diese nicht verlassen. Viele Kinder haben auch einfach keinen Pass. Und wenn wir von der aktuellen Krise weiter denken, wenn eine Gesellschaft militarisiert wurde, dann steigt die häusliche Gewalt oftmals auch sehr stark an, weil mehr Waffen im Umlauf sind.
Du haderst mit der klassischen Opferdarstellung?
Ja, es ist mir wichtig zu betonen: Geschlechterspezifische Friedensförderung bezieht sich nicht nur auf die Frauen. Es ist unmenschlich, dass Männer im Krieg als Waffen eingesetzt werden, sowie die Traumatisierung, die damit einhergeht. Den Männern wird die Verwundbarkeit abgesprochen. Was wir wollen, ist, diese Zweiteilung zu brechen. Frauen sind demnach nur immer Opfer und keine aktiven Akteure und Männer sind immer nur Täter und können keine Opfer sein. Diese Sicht ist fatal. Gerade im Krieg werden die Körper der Männer einfach nur benutzt.
Wie steht es um die Sicherheit der Zivilbevölkerung?
Es gibt gesichertes Material von Bombardements von Wohnhäusern und Ambulanzen, es stimmt also nicht, dass nur militärische Ziele getroffen werden. Die Berichterstattung ist leider immer sehr abstrakt. Man hört ständig: Jetzt rücken sie in nächste Stadt vor. Dabei leben dort Menschen und werden verletzt und getötet. Es fehlen diese konkreten Bilder in der Berichterstattung.
Selenski verlässt sein Land nicht, die Ukrainer verteidigen ihr Land, nun werden auch Waffen zusätzlich geliefert aus dem Westen. Wird es die Ukraine als Land in absehbarer Zeit noch geben, wie beurteilst du die Situation?
Ich bin trotz allem überzeugt, dass es die Ukraine weiterhin geben und es das Ende von Putin sein wird. Es wird leider zu einem sehr hohen Preis sein, aber Putin ist so verblendet und hat die Ukraine völlig unterschätzt. Selbst wenn Kiew fällt, wird Putin das Land nicht regieren können, nicht einmal mit Waffen, der Protest kann auch schweigend geschehen. Und selbst in Russland wird der Rückhalt in der Bevölkerung schwinden. Ein Krieg gegen ein Land, in dem die selbe Sprache gesprochen wird, in das man in die Ferien reist, das wird langfristig keinen Rückhalt bringen. Zudem: Die Menschen werden merken, dass ihr Leben seit Jahren nicht besser geworden ist angesichts der hohen Militärausgaben. Wenn jetzt noch Sanktionen dazukommen, die greifen werden, und ihre Söhne grundlos sterben, werden selbst Loyalisten zweifeln.
An der Sicherheitskonferenz in München hat das Foto des all-male CEO-Lunch einmal mehr gezeigt, wer kommerziell vom Krieg profitiert: die Waffenproduzenten. Wer profitiert im aktuellen Krieg konkret? Wer hat ein Interesse daran?
Es gibt eine Kriegswirtschaft, die profitiert sowohl in der Vorbereitung als auch während der Krise. Profiteure sind sicher Waffenhersteller, aber auch die Spekulanten an den Aktienmärkten. Eine Kriegswirtschaft braucht Kämpfer, Waffen und Geld. Waffen werden legal und illegal gehandelt, hier gibt es die grössten Profite. Im Donbass sind seit 2014 Söldner stationiert – das ist ein lukratives Business! Und Russland zahlt Milizionäre grosszügig. Bricht ein Staat zusammen, birgt das zudem Opportunitäten für den Schwarzmarkt, für den Menschenhandel.
Was könnte eine feministische Sicherheitspolitik bewirken?
Der Grundansatz einer feministischen Sicherheitspolitik ist es, dass man nicht Staaten und ihre Grenzen in den Fokus setzt, sondern die Menschen, die Bedürfnisse der Zivilbevölkerung. Diese Form der Sicherheitspolitik setzt auf Diplomatie. Es geht um eine humanistische Weltsicht. Eine grosse Herausforderung wird es jetzt sein, diese Form weiter zu stärken, weil sich das Narrativ, der Westen sei zu weich gewesen, habe zu viel abgerüstet, bereits wieder stark verbreitet. Man liest jetzt schon wieder die Aufforderung, dass mehr Geld ins Militär fliessen soll – wo es dann fehlt, ist bei der Care-Arbeit und für die Grundbedürfnisse der Menschen im Land.
In der Resolution der 1325 der UN wird anerkannt, dass im Kontext von Krieg die Erfahrungen von Frauen zählen sollen. Knapp hundert Staaten haben einen Aktionsplan zu dieser Erklärung erarbeitet – was hilft eine solche Erklärung nun?
Sobald es wieder zu Friedensverhandlungen kommt, wird es wichtig, dass auch wieder Menschen zu Wort kommen, die eben nicht zu den Waffen gegriffen haben, die aber die Konsequenzen mittragen und die über die Konfliktlinien hinaus vermitteln. Dann müssen die Staaten wieder an diese Vereinbarung erinnert werden. Die Frauenorganisationen werden im Friedensprozess hoffentlich eine wichtige Rolle spielen. Ein Friedensabkommen ist kein Waffenstillstand, sondern das ist extrem umfangreich. Es geht um Abrüstung, die Integration der Kämpfer:innen in die Gesellschaft – das sind viele Bereiche, die Frauen auch direkt betreffen, und es kann nicht sein, dass sie dann dort nicht mitbestimmen können.
Putin tritt als Aggressor auf. Wie beurteilen die Ukrainer:innen sein Verhalten – und das der Weltgemeinschaft?
Sie nehmen ihn ganz klar als Aggressor wahr, das ist völlig unbestritten. Gegenüber der Weltgemeinschaft fühlen sich die Ukrainer:innen ausgeliefert, sie sind verzweifelt und empört über zu wenig und zu wenig schnelle Hilfe. Viele fühlen sich auch nicht genügend ernst genommen seit 2014, als Putin die Krim annektiert hat. Es wurde mehrere Tage abgewartet, den Zahlungsverkehr Swift für Russland einzustellen. Eigentlich fordern die Ukrainer:innen ja noch mehr, beispielsweise den Luftraum zu schützen – aber das kann die Weltgemeinschaft nicht bewerkstelligen, alles andere würde einen Nuklearkrieg bedeuten.
In Russland selbst werden Proteste gegen den Krieg unterdrückt, wissen die Menschen dort überhaupt, was in der Ukraine geschieht?
«Menschen in Russland» ist sehr breit gefasst – viele Menschen auf ländlichem Gebiet haben nicht einmal Internet. Es ist ein sehr armes Land, und dort bekommen die Menschen nur die Nachrichten und die Propaganda aus dem staatlichen Fernsehen mit. Aber die Zivilgesellschaft in den Städten kann sich informieren via Youtube, Telegram, etc. Es gibt auch noch wenige unabhängige Medien wie TV Rain oder Meduza, sie sind internetbasiert und können senden. Und das Wichtigste: Fast alle haben Verwandte und Bekannte in der Ukraine, die direkt vor Ort berichten.
Hat die informierte Zivilgesellschaft in Russland überhaupt Handhabe, Widerstand zu leisten? Wer demonstriert, kommt ins Gefängnis.
Sie sind verzweifelt und sehr verängstigt. Sie nehmen die Radikalisierung ihres Regimes aus nächster Nähe wahr und wissen, dass sie unter dem Regime weiterleben müssen und der Krieg auch in ihrem Namen geführt wird. Offenbar hat aber nicht einmal der engste Zirkel um Putin noch einen Einfluss auf ihn.
Wie steht es um gezielte Desinformation der Bevölkerung?
Die wird stark von den staatlichen Fernsehanstalten geführt, es wird noch immer nur von einer militärischen Operation im Donbass berichtet. Die staatlichen russischen Medien halten das Narrativ aufrecht vom Genozid der ukrainischen Nazis gegen ethnische Russen in der Region. Das wird auch unterstützt mit falschem Beweismaterial, das zirkuliert. Neue, russische Accounts sollen deshalb auf Twitter verboten werden und auch für Facebook und Instagram wird Ähnliches erwogen.
Wie beurteilst du die Reaktion der internationalen Gemeinschaft, Tag 4 seit der Invasion?
Ich kann die Zögerlichkeit und die Angst zu einem Teil verstehen, weil Russland eine Atommacht ist. Der Beschluss der Sanktionen und die Umsetzung war langsam und müsste auf alle Banken ausgeweitet werden – Swift war ein wichtiger Schritt, auch die Ausweitung der Sanktionen auf die russische Zentralbank. Da man den Luftraum nicht schützen kann, da dies eine Kriegserklärung an Russland wäre, ist die Sperrung des eigenen Luftraumes der Länder bestimmt eine wichtige Stütze. Wäre Swift nicht dazugekommen, wäre ich enttäuscht gewesen, aber Swift und die Ausweitung der Sanktionen auf die russische Zentralbank waren wie eine nukleare Aktion, ohne wirklich Waffen einzusetzen.
Was kommt zu kurz?
Die ganze humanitäre Hilfe – es wird essenziell sein, dass die osteuropäischen Länder ihre Grenzen aufmachen für alle – auch wenn sie die europäische Migrationspolitik der letzten Jahre nicht mitgetragen haben. Es gibt viele Studierende aus Afrika in der Ukraine, die in den letzten Tagen nicht nach Polen oder Ungarn eingelassen worden sind wegen ihrer Hautfarbe. Vor wenigen Monaten erfroren noch Menschen an der Grenze von Belarus zu Polen und Litauen, sie kamen aus Afghanistan und Irak und nicht aus der Ukraine – und statt dass diese Länder menschlich reagiert hätten, wurden Zäune aufgestellt, und die Menschen starben vor Kälte. So gehen wir seit Jahrzehnten mit Menschen um, die eine andere Hautfarbe haben.
Eine Mehrheit der Schweizer Parteien fordert Sanktionen: In der Schweiz sind ein grosser Anteil russischer Vermögen angelegt und Unternehmen ansässig. Warum handelt der Bundesrat nicht?
Die offizielle Antwort lautet, dass die Schweiz dauernd neutral ist, um ihre Vermittlerrolle nicht zu gefährden, sprich Sanktionen müssten immer beide Seiten betreffen. Es gibt aber verschiedene Auslegungen der Neutralität – politisch und völkerrechtlich. Wir stehen an einem historischen Wendepunkt, diese Neutralität neu zu definieren. Verboten wäre es nicht, es ist eine Frage des Willens …
… und des Geldes. Was würdest du dir wünschen von der Schweiz?
Das Mittragen der EU-Sanktionen und eine grosszügige und schnelle Aufnahme von Geflüchteten und, dass wir humanitäre Hilfe vor Ort erbringen, darin sind wir ja auch gut.
Wie können wir helfen? Wie können wir uns solidarisch zeigen?
Das Wichtigste ist, zu spenden. Zudem sollten wir weiterhin auf die Strasse gehen und friedlich weiter demonstrieren. Wir dürfen den Krieg in der Ukraine nicht normalisieren. Und wir müssen den Druck auf die eigene Regierung aufrecht erhalten.
Welche Organisationen sind empfehlenswert?
Ich kann Madre, den Urgent Action Fund sowie Libereco empfehlen, alle drei Organisationen sind bereits vor Ort und müssen keine neuen Infrastrukturen aufbauen.
Ist Spenden und Demonstrieren die einzige Möglichkeit der Unterstützung?
Wenn Geflüchtete in die Schweiz kommen, kann man sich bestimmt ehrenamtlich einbringen, allenfalls auch Unterkünfte zur Verfügung stellen und die Menschen, die zu uns kommen, willkommen heissen.
Danke für dieses Gespräch.
Leandra Bias ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Zu ihren Spezialgebieten gehören Aussen- und Friedenspolitik, Autoritarismus sowie das ehemals kommunistische Europa – alles aus feministischer Perspektive. Sie hat 2020 an der Universität Oxford mit einer vergleichenden Arbeit zu Antifeminismus in Russland und Serbien promoviert, die von der Schweizer Gesellschaft für Geschlechterforschung ausgezeichnet wurde. Seither forscht und berät sie beim Friedensinstitut swisspeace zu diesen Themen.