Diesen Text verfasse ich, um meine Perspektive zur Gleichstellung der Geschlechter am Arbeitsplatz zu teilen, jetzt wo ich ausserhalb der Schweiz arbeite. Ich reflektiere meine Erfahrungen mit der Arbeit in zwei vergleichbaren Umgebungen: Recht und öffentliche Politik im NGO-Bereich und an verschiedenen Hochschulen in deutschsprachigen Schweizer Städten und in Städten im Süden, Mittleren Westen, Mid-Atlantic und Nordosten der USA.

«Erleichterung»

Das vorherrschende Gefühl, das ich nach meiner Rückkehr in die USA bei der Arbeit verspüre, ist Erleichterung. Die Rückkehr an Arbeitsplätze, die von US-Gleichstellungsgesetzen und sozialen Normen geregelt werden, fühlt sich gut an. Wie das Verlassen der Zahnarztpraxis, nachdem einem ein schmerzender Zahn gezogen wurde. Sowohl der Schmerz als auch die Angst vor zukünftigen Schmerzen sind verschwunden. Als ich in der Schweiz arbeitete, wurde mir oft gesagt, dass ich mir die Geschlechterdiskriminierung nur einbilde. Nach einer Weile begann ich das zu glauben. Ich glaubte, das Problem liege bei mir. Erst nach Gesprächen mit Hunderten von Frauen – Schweizerinnen und Ausländerinnen – merkte ich, dass das Problem nicht nur in meinem Kopf existierte. 

Alexandra Dufresne
Als ich in der Schweiz arbeitete, wurde mir oft gesagt, dass ich mir die Diskriminierung nur einbilde. Erst nach vielen Gesprächen mit Frauen merkte ich: Das Problem existiert nicht nur in meinem Kopf.

Was ist anders in den USA?

Warum ist also mein Arbeitsumfeld in den USA so anders? Erstens ist es die Anzahl Frauen in Führungspositionen. An der Hochschule, an der ich derzeit in den USA unterrichte, sind die meisten Mitglieder des leitenden Führungsteams weiblich. Die Dekanin unserer Fakultät ist eine Frau genauso wie die Präsidentin der Universität. Auch die meisten Expert:innen, bei denen ich Rat einhole, sind Frauen. In der Schweiz arbeitete ich in denselben Bereichen, aber fast alle meine leitenden Kolleg:innen waren Männer.

Der zweite Punkt ist, dass an meinem Arbeitsplatz in den USA völlig irrelevant ist, dass ich Kinder habe. Ob man Mutter ist, ist hier egal, ganz im Gegensatz zur Schweiz.

Drittens sind in den USA Gesetze gegen Diskriminierung tief verinnerlicht und im Arbeitsumfeld eine wichtige soziale Norm. In der Schweiz werden Normen wie Pünktlichkeit, Höflichkeit, Diskretion, Konsenssuche und Konfliktvermeidung durch sozialen Druck durchgesetzt – so rigoros, dass sie zu automatischen Verhaltensweisen geworden sind. Ähnlich wird die Gleichstellung der Geschlechter und Inklusion in den USA eingehalten. Verstossen Männer hier gegen Gleichstellungsnormen, weisen Personen aller Geschlechter sie darauf hin, und sie passen ihr Verhalten schnell an.

Amerikaner, die die Schweiz besuchen, sind oft beeindruckt, dass Schweizer:innen mehrere Sprachen reden. Aber diese Mehrsprachigkeit kommt nicht einfach «natürlich» – sie ist das Ergebnis des Bildungssystems und der Gesellschaft, die sprachliche Vielfalt priorisieren. Genau so ist es mit den Themen Gleichstellung und Inklusion am Arbeitsplatz. Beides geschieht an US-amerikanischen Arbeitsplätzen nicht einfach «natürlich». Es geschieht, weil die Gesellschaft beschlossen hat, dass diese Themen Priorität haben. Auch weil es uns alle wirtschaftlich so viel produktiver macht.

Ein vierter Unterschied ist die Zeit, die seit der Einführung der gleichen Rechte für Frauen vergangen ist. Einer meiner engsten Arbeitskollegen in den USA ist ein Mann in seinen frühen 70ern; ein anderer Kollege ist in seinen 80ern. In Bezug auf Gleichstellung verhalten sie sich wie Schweizer Männer unter 30. Für mich ist kar: Das liegt daran, dass Gleichstellung in der Schweiz noch nicht lange vorhanden ist. Schweizer Frauen erhielten das Wahlrecht 1971.

Alexandra Dufresne
Einer meiner engsten Arbeitskollegen in den USA ist ein Mann in seinen 70ern; ein anderer Kollege ist in seinen 80ern. In Bezug auf Gleichstellung verhalten sie sich wie Schweizer Männer unter 30.

Der grösste kulturelle Unterschied überhaupt

Der fünfte Unterschied ist das Selbstverständnis der Frauen, welche Rolle die Erwerbsarbeit in ihrem Leben einnehmen soll. In der Schweiz erkrankte ich an Brustkrebs. Ich wurde ausgezeichnet behandelt. Ich werde dem schweizerischen Gesundheitssystem immer dankbar sein für die zusätzlichen Jahre, die es mir geschenkt hat.

Aber es gab eine kleine Sache. Nach Operation und Bestrahlung benötigte ich eine hormonelle Behandlung, um zu verhindern, dass der Krebs zurückkehrt. Tamoxifen ist ein Medikament, das in dieser Situation häufig verschrieben wird. Es verursacht bei vielen Frauen Erschöpfung und Depressionen. Meine Schweizer Ärztin war zwar verständnisvoll, aber sie wurde auch deutlich: Es gebe keine Wahl, ausser das Medikament zu nehmen, und keine Behandlung für die Nebenwirkungen. Wenn ich müde und deprimiert sei, sei vermutlich die Lösung, mehr zu schlafen und weniger zu arbeiten. 

Alexandra Dufresne
In den USA ist es am Arbeitsplatz egal, dass ich Kinder habe. Ob man Mutter ist oder nicht, ist hier egal – im Gegensatz zur Schweiz.

Als ich in die USA zog, holte ich eine Zweitmeinung ein. Mein neuer Onkologe war eine Frau Mitte 70. Ich erklärte meine Situation, und sie sagte etwas Überraschendes: «Sie sind Professorin und Mutter von drei Kindern. Sie können es sich nicht leisten, müde oder depressiv zu sein. Es ist bekannt, dass dieses Medikament diese Nebenwirkungen hat, aber das ist keine Art zu leben. Hier ist ein Medikament gegen diese Symptome. Das ist der Standard der Behandlung.» Das Medikament wirkte und brachte mir jeden Tag zusätzliche zwei Stunden Produktivität zurück, ganz zu schweigen von Freude. Was mich so überraschte war, wie ernst die Ärztin in den USA meine Karriere nahm und wie leicht sie verstand, wie bedeutend diese für mich ist. 

Wie sich die Gleichstellung auszahlt

Wenn Diskriminierung am Arbeitsplatz kein Thema ist, passiert das Schönste. Alle können sich auf den Inhalt ihrer Arbeit konzentrieren. Gibt es Meinungsverschiedenheiten, kann man diese lösen – ohne die verzerrende Schicht des Sexismus. Es gibt keinen Subtext, kein Drama, kein Grübeln über die wahren Gefühle anderer Menschen. Alle sind viel produktiver. Wenn man als Frau einen Fehler macht, ist das kein Problem: Man entschuldigt sich und macht weiter. Ein Fehler ist kein Türöffner, um darüber zu diskutieren, ob Mütter überhaupt in den Arbeitsmarkt gehören. 

Fehlende Solidarität

Sexismus verändert auch das Verhalten von Kolleginnen. In der Schweiz waren einige der am wenigsten unterstützenden Menschen in meinem beruflichen Umfeld Schweizer Frauen über 30. Sie schienen es mir übel zu nehmen, dass ich Karriere machen wollte, während ich Kinder hatte.

Meine älteren Kolleginnen hatten eine «Knappheits»-Mentalität, nach dem Motto: Der Kuchen hat nur eine bestimmte Grösse, wenn sie ein Stück davon bekommt, bleibt weniger für mich. Hatten sie die Wahl, mich zu unterstützen oder ihre eigene Karriere voranzutreiben, wählten sie immer letzteres. Selbst wenn es sie nichts gekostet hätte, unterstützend zu sein. Waren Männer im Raum (und Männer waren fast immer im Raum), leugneten sie, dass Sexismus existiert.

Der Mangel an Solidarität war schockierend und ehrlich gesagt verheerend. Aber ich kann es nachvollziehen: Ich kam aus einer Welt, in der mehr Frauen am Tisch bedeutet, dass es mehr Kuchen für alle gibt. Sie kommen aus einer Welt, in der sie Männer zuerst bedienen und die Reste eifersüchtig hüten und untereinander aufteilen müssen.

In den USA hat mich noch nie eine ältere Frau gebremst. Meine älteren Kolleginnen waren durchweg unterstützend. Es ist ein grossartiges Gefühl, jeden Tag zur Arbeit zu gehen und zu wissen, dass deine weiblichen Kolleginnen dich und deine Arbeit supporten und wollen, dass du erfolgreich bist. 

Auch ich bin hier in den USA übrigens anders. Der Sexismus in der Schweiz hat Selbstzweifel an meinem eigenen Urteilsvermögen gesät. Ich war in der Schweiz sicher produktiv, aber nicht so produktiv, wie ich es gewesen wäre, wenn ich keine Angst vor Fehlern gehabt hätte. Hier bin ich glücklich und zuversichtlich. Ich habe keine Angst mehr vor Fehlern, weil ich weiss, dass ich bei meinen Kollegen ein Reservoir an Wohlwollen aufgebaut habe.

Alexandra Dufresne
Die Gleichstellung der Geschlechter am Arbeitsplatz geschieht in den USA nicht einfach «natürlich». Sie geschieht, weil das Thema Priorität hat.

Auf Augenhöhe

All das heisst natürlich nicht, dass in der Arbeitswelt in den USA alles perfekt ist. Es gibt immer noch viel Konfliktpotenzial. Aber es gibt andere Lösungsmöglichkeiten. Wenn ich mit einem männlichen Kollegen in einer Sache anderer Meinung bin, kann ich meine Einwände äussern, er seine, und wir finden eine Lösung. Ob er mich als gleichberechtigte Partnerin respektiert, steht nicht zur Debatte. Er betrachtet meine Intensität als Leidenschaft, nicht als Hysterie. Er betrachtet meinen Antrieb als produktiven Ehrgeiz, nicht als Arroganz. Er sieht mich als Teamkollegin und nicht als Konkurrentin und meinen Erfolg als Vorteil und nicht als Bedrohung.

Natürlich ist meine Situation in den USA nicht repräsentativ für die Mehrheit der Frauen. Ich verfüge über sehr viele Privilegien. Ich bin US-Bürgerin, ich bin Weiss, heterosexuell, gehöre der Mehrheitsreligion an und habe keine sichtbare Behinderung. Ich bin wohlhabend aufgewachsen und hatte Zugang zu exzellenter Bildung. Auch in der Schweiz verfügte ich über diese Privilegien. Der Unterschied besteht darin, dass in der Schweiz keine Menge an Privilegien der Tatsache entgegenwirken konnte, dass ich am Ende einfach (nur) als mittelalte Mutter von drei Kindern gesehen wurde.

Alexandra Dufresne
Wenn Diskriminierung kein Thema ist passiert das Schönste: Alle können sich auf den Inhalt ihrer Arbeit konzentrieren.

Nach vorne schauen

Als ich früher Bedenken wegen Geschlechterdiskriminierung in der Schweiz äusserte, lautete eine Antwort: «Wenn es dir hier nicht gefällt, warum gehst du dann nicht einfach nach Hause?» Ich habe diesen Rat lange Zeit abgelehnt, da die Schweiz meinem Mann enorme Karrieremöglichkeiten bot. Aber schliesslich konnte ich es nicht mehr ertragen. Ich hatte versucht, mich mit einer Ernsthaftigkeit zu integrieren, die im Rückblick peinlich ist. Trotz meiner Bemühungen haben mich viele (nicht alle) meiner schweizerischen Kollegen abgelehnt, und es hat mir das Herz gebrochen.

Ich verstehe, dass es für die Mehrheit der Frauen in der Schweiz keine Option ist, das Heimatland zu verlassen, das sie lieben. Warum also schreibe ich das, wenn es weder möglich noch erwünscht ist, ins Ausland zu ziehen?

Ich möchte, dass Frauen in der Schweiz wissen: Wenn ihr Sexismus am Arbeitsplatz spürt, bildet ihr euch das nicht ein. Und: Das, was ihr erlebt, ist nicht normal und nicht unvermeidlich.Diese Perspektive klar vor Augen zu haben, ist für Veränderungen unerlässlich.

Ich möchte Schweizer Männer, die Gleichstellung schätzen und sich dafür einsetzen, dazu ermutigen, zuversichtlich zu sein. Ich möchte, dass die erstaunlichen Student:innen, die ich in der Schweiz unterrichtet habe, wissen, dass sie richtig liegen, wenn sie sich für Veränderungen einsetzen.

Ich möchte, dass Männer und Frauen in der Schweiz, die mit veralteten, provinziellen, kleingeistigen Verhaltensweisen aufgewachsen sind, wissen, dass Gleichstellung nicht so furchterregend oder destabilisierend ist, wie sie befürchten. Tatsächlich ist es nicht einmal un-schweizerisch. Im Gegenteil, Gleichstellung ist eine sorgfältige, solide, ausgezeichnete Investition. Sie bringt sogar Gewinne: Zusammenarbeit, soziale Harmonie, weniger Drama und mehr Produktivität.

Alexandra Dufresne
Ich möchte, dass Männer und Frauen in der Schweiz, die mit veralteten, provinziellen, kleingeistigen Verhaltensweisen aufgewachsen sind, wissen: Gleichstellung ist nicht so furchterregend oder destabilisierend, wie ihr befürchtet.

Stellt euch vor, wo ihr wärt, wenn ihr Gleichstellung hättet

Ich verstehe, dass Veränderungen für Menschen, die in der Schweiz leben, schwierig sein können. Veränderung fühlt sich riskant an. Es ist einfach, das Chaos in der Welt zu betrachten und zu denken: «Wir haben hier etwas Gutes; am besten, wir bringen das Boot nicht zum Kentern.» Im Gegensatz dazu denkt die Amerikanerin in mir: «Ihr seid grossartig. Die Schweiz ist erstaunlich! Stellt euch vor, wie grossartig ihr sein könntet, wenn ihr die Gleichstellung annehmt?»

Ich verstehe, dass die Welt je nachdem, wer man ist und wo man sitzt, anders aussieht. Aber es ist 2024, und wir haben alle unsere Arbeit vor uns. Ich finde es hier in den USA eine enorme Erleichterung, mich auf meine Arbeit konzentrieren zu können, ohne Geschlechterdiskriminierung oder die Schmerzen und Ablenkungen, die sie mit sich bringt, fürchten zu müssen.

Erleichterung ist ein wunderbares Gefühl, wie im Winter von Zürich in die Berge zu gehen und endlich die Sonne im Gesicht zu spüren. Ich wünsche meinen Kolleginnen in der Schweiz dieses Gefühl.

Adieu, liebe Schweiz: Ein Abschiedsbrief einer Feministin
Nach sechs Jahren verlässt die Menschenrechtsanwältin, Feministin und berufstätige Mutter Alexandra Dufresne die Schweiz. Bevor sie das tut, richtet sie sich aber noch mit einem dringenden Aufruf an uns alle.