Noch nie brachten Frauen in der Schweiz so wenige Kinder zur Welt wie aktuell: Die Geburtenrate liegt bei 1,33 Kindern pro Frau. Das heisst, Stand 2023 würden die Frauen in der Schweiz in ihrem ganzen Leben durchschnittlich 1,33 Kinder haben, wie das Bundesamt für Statistik (BfS) berechnet hat. Das ist ein historischer Tiefstand.
Aufhorchen lässt das auch deshalb: 2,1 Kinder pro Frau sind nötig, damit die Anzahl geborener Mädchen in der Kindergeneration gleich gross ist wie die Anzahl der Frauen in der Elterngeneration. Seit 1970 wurde diese Schwelle nicht mehr erreicht.
Das Land schwindet.
Geburtenhäufigkeit in der Schweiz
Ein detaillierter Blick auf die BfS-Zahlen zeigt, dass die Geburtenzahl bei Schweizer Müttern wie auch bei jenen mit ausländischer Staatsangehörigkeit zurückging. 2023 wurden in der Schweiz 80’000 Lebendgeburten registriert. Das sind 2300 oder 2,8 Prozent weniger als 2022. Obwohl ihre Anzahl weniger stark zurückgegangen ist als noch im Vorjahr (–7300 oder –8,1 Prozent), bestätigt die Entwicklung den seit 2021 anhaltenden Abwärtstrend.
Umgekehrt formuliert heisst das: Fast jede vierte Frau in der Schweiz ist kinderlos. Bei den Männern ist der Wert ähnlich.
Auffällige Unterschiede zeigen sich zwischen den Geschlechtern dann, wenn der Bildungsstand einbezogen wird. Während Männer unabhängig von ihrer Ausbildung ähnlich viele Kinder haben, ist das bei Frauen anders. Je besser ausgebildet, desto weniger Kinder haben sie. Konkret: Bei den Frauen mit Tertiärabschluss macht der Anteil der «Kinderlosen» 31 Prozent aus, bei den Frauen mit einem Abschluss auf Sekundarstufe II oder ohne nachobligatorische Ausbildung 20 Prozent.
«Komplex und vielschichtig»
So weit die nackten Zahlen. Doch es gibt eine zweite Ebene. Die demographische Entwicklung der Schweiz prägt auch die wirtschaftliche und die gesellschaftliche Zukunft des Landes. Sprich: Die historisch tiefe Geburtenrate geht uns alle etwas an. Ohne Kinder keine Zukunft. Nicht zuletzt deshalb, weil wichtige soziale Errungenschaften wie die AHV deswegen ins Ungleichgewicht geraten. Und auch den Immobilienmarkt kann die Gebärunlust grundlegend verändern. Wer braucht dann noch Kindergärten, Schulen oder grosse Wohnungen oder Einfamilienhäuser? Die Haushaltgrössen sinken seit Jahren.
Was also steckt hinter diesem Baby-Tief? Vorab: Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht, wie Jeannine Hess auf Anfrage von ellexx sagt. Hess ist Studiengangsleiterin für Soziale Arbeit an der ZHAW und forscht zu Familienthemen. «Das Thema Kinderlosigkeit ist komplex und vielschichtig.» Es gebe verschiedene Gründe, weshalb die Geburtenrate tief sei. Hess zählt – neben geopolitischen Unsicherheiten, hohen wirtschaftlichen Kosten und einer zunehmenden Individualisierung – Gründe für Kinderlosigkeit auf:
- Fehlende «richtige» Partnerschaft
- Alter
- Lebensstil
- Sozialisation und Beeinflussung durch das soziale Umfeld
- Bildung und Erwerbsstatus
- Vereinbarkeit von Beruf und Familie und familienpolitische Massnahmen
Alle diejenigen Frauen und Männer, die bewusst keine Kinder wollen, sind hingegen sichtbarer geworden. Es gab sie schon immer, heute ist ihr Lebensentwurf indes gesellschaftlich akzeptierter. Weil sich Werte und Lebensweisen verändern. Diese Menschen nennen sich selber denn auch bewusst «kinderfrei». Dies, um zu betonen, dass dieser Zustand frei gewählt ist und ihnen im Gegensatz zu den ungewollt Kinderlosen eben nichts fehlt im Leben. Diese neue selbstbestimmte Kinderfreiheit provoziert vor allem bei Frauen.
Ein Zusammenhang zwischen «kinderfreien Frauen» und der historisch tiefen Geburtsrate lässt sich (noch) nicht festmachen: «Wir können keine Beziehung zwischen der Absicht, keine Kinder zu haben, und diesem Geburtenrückgang bescheinigen», teilt das BfS auf Anfrage von ellexx mit. Auch Hess von der ZHAW sagt: «Es gibt verschiedene Gründe, weshalb die Geburtenrate tief ist. Gewollte Kinderlosigkeit ist ein Faktor, aber sicherlich nicht der einzige.»
Spannend in diesem Zusammenhang: Im Jahr 2023 gaben 17 Prozent der 20–29-Jährigen an, kein Kind zu wollen. Ob dieser Wert verglichen mit den Vorjahren steigt, lässt sich aufgrund eines Wechsels bei der Erhebungsmethode laut BfS noch nicht sagen. Auch Hess sind dazu keine Daten bekannt, sie betont aber: «In der Schweiz ist der Anteil der definitiv Kinderlosen im Vergleich zu früher gestiegen, unter anderem aufgrund der Hypothese, dass sich der Mensch heutzutage bewusst und freiwillig gegen Kinder entscheiden kann, wohingegen dies vor den 1960er-Jahren die Ausnahme bildete.»
Karriere statt Kinder
Fast jede zweite kinderlose Frau im Alter von 25 bis 39 Jahren ging laut BfS letztes Jahr davon aus, dass ein Kind die Freude und Zufriedenheit im Leben zwar steigern würde (bei den Männern sind die Zahlen ähnlich). Aber: Fast 50 Prozent der Frauen erwarten negative Auswirkungen durch die Geburt eines Kindes, insbesondere im Beruf. Haben diese Frauen einen Tertiärabschluss, sind es gar 70 Prozent. Bei den Männern sind es hier nur knapp 40 Prozent.
Für Hess ist das nicht überraschend. Sie sagt: «Kinderbetreuung ist nach wie vor mehrheitlich Sache der Mütter. Und ich behaupte, dass das Thema Kind und Familie nach wie vor stark mit der Frau in Verbindung gebracht wird.» Frauen mit Tertiärabschluss hätten vermutlich, so Hess, höhere Erwartungen in Bezug auf ihre Berufsaussichten, die dann durch die Ankunft eines Kindes nicht erfüllt werden können.
Das bestätigt eine Studie der Dualen Hochschule im Deutschen Gera, für die bei über 1000 gewollt kinderlosen Frauen untersucht wurde, warum sie keine Mütter werden wollen. Eine Erkenntnis: Den Frauen ist sehr bewusst, dass Kinder viel Raum, Zeit und Energie einnehmen. Und: Die finanziellen Vorteile eines kinderlosen Lebens waren für mehr als die Hälfte der Frauen ein Grund, keinen Nachwuchs zu wollen.
«Kinderfreie» stossen auf Interesse
Mehr und mehr «Kinderfreie» outen sich. Laut Hess von der ZHAW sind wir gesellschaftlich offener geworden für verschiedene Lebensentwürfe und hinterfragen traditionelle Normen. Dennoch: Auf sozialen Netzwerken ist das Echo jeweils immens, wenn nicht feindlich.
Trotz mehr gesellschaftlicher Offenheit bedeutet ein Kind gerade für die Frau noch immer einen Karriereknick, sagt Hess. Kitas oder schulergänzende Betreuungsangebote seien laut BFS am häufigsten in den Städten zu finden, für Familien in ländlichen Regionen sei die Vereinbarkeit von Beruf und Familie schon schwieriger zu organisieren. «Gemäss BFS haben Eltern wenig Zeit zum Erholen. Berufstätige Mütter müssen resilient sein, um den verschiedenen Ansprüchen gerecht zu werden. Meines Erachtens ist das ein Tabu, und wir sollten mehr darüber sprechen.»
Das Fazit? Hess zitiert die deutsche Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim: «Kinderhaben wird gleichzeitig zum Wunsch und zur Frage. Damit verbunden ist sowohl die Freiheit, sich für oder gegen Kinder entscheiden zu können, aber auch der gesellschaftliche (und auch individuell biografische) Zwang, sich entscheiden zu müssen.»
ellexx beleuchtet in einer Serie «kinderfreie» Frauen. Im zweiten Teil erzählt eine bewusst «Kinderfreie» von ihren Beweggründen, ihren Herausforderungen – und ihren Freiheiten.
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