Cédric, wir haben unser Interview extra nicht auf einen Tag gelegt, an dem deine Kinder bei dir sind. Wer betreut sie denn heute?
Heute sind sie in der Schule und in der Kita.
Hast du sie hingebracht?
Ja. Heute Morgen war die Kleine aber ein Häufchen Elend.
O je, warum?
Weil heute der letzte Tag in der Kita ist. Sie war total nervös, hat eine Woche lang praktisch nicht geschlafen.
Deine Kinder sind sieben und vier Jahre alt. Wie hast du die Schwangerschaftskilos wieder verloren?
Gar nicht, ich bin schwerer als vorher! Seit ich Kinder habe, nehme ich eigentlich nur noch zu. Weil ich alles aufessen muss, was sie liegen lassen.
Stresst es dich, dass du zugenommen hast?
Ja, manchmal. Kommt auf die Tagesform an. Es stresst mich eher, dass ich weniger Zeit für Sport habe, seit ich Co-Präsident der SP bin. Das schlägt sich auf meine Kondition nieder. Der wachsende Bauch ist die Folge davon.
Bringst du deine politische Karriere und die Kinder unter einen Hut?
Wenn ich ganz ehrlich bin: Wir versuchen es wirklich, scheitern aber auch oft. Meine Frau und ich probieren, so gut es geht, eine Ausgeglichenheit zu schaffen. Wir haben beide unser eigenes Leben und unsere Berufe. Aber auch wenn ich physisch zu Hause präsent bin, im Kopf bin ich trotzdem oft noch mit politischem Quatsch beschäftigt. Von daher wäre es vermessen, zu behaupten, dass wir uns die Arbeit und den Mental Load zu Hause wirklich immer 50/50 aufteilen.
Was tust du denn dafür, dass es mit der Vereinbarkeit trotzdem klappt?
Ich bringe die Kinder am Morgen zur Schule und in die Kita und esse vorher mit ihnen Zmorge. Sie sind unter der Woche etwa gleich lang je bei uns wie in der Betreuung. Ich möchte trotz verantwortungsvollem Job nicht nur Sonntagsvater sein und in zehn Jahren zurückschauen müssen und merken, dass ich etwas verpasst habe. Aber es ist anspruchsvoll, anstrengend und aufreibend.
Woran liegt das?
Ich will nicht die ganze Verantwortung nach aussen hin abschieben. Aber: Das politische System ist auf Männer ausgelegt, die viel Geld haben und zu Hause eine Frau, die sich um die Kinder kümmert. Es ist noch nicht in der Politik angekommen, dass heute eben auch junge Eltern im Parlament sitzen. Und für Frauen ist es noch schwieriger als für Männer.
Wie viel arbeitet denn deine Frau?
Sie ist Primarlehrerin und ist aktuell zu 80 Prozent angestellt. Oft arbeitet sie aber mehr. Gerade am Abend auch mehr als ich. Und vor allem während der Pandemie hat sie deutlich über ihrem Pensum gearbeitet.
In einem Interview hast du einmal gesagt, dass das Amt des Nationalrats und die Familie schwer zu vereinbaren sind. Hast du schon einmal einen Kindergeburtstag verpasst?
Bis jetzt nicht. Ich bin da sehr konsequent. Ich verpasse lieber mal einen politischen Event als einen Anlass von meinen Kindern. Das war übrigens eine Bedingung für Mattea Meyer und mich, dass wir flexibel arbeiten können.
Mattea Meyer besetzt mit dir die Co-Leitung der SP. Hast du dir den Job ohne eine Frau nicht zugetraut?
Nein, tatsächlich nicht. Oder ich muss es anders definieren: Ich hätte diesen Job nicht ohne sie machen wollen. Es ging mir nicht per se darum, ein Co-Modell durchzusetzen. Sondern ich hätte mir diesen Job ohne Mattea schlichtweg nicht vorstellen können.
Was braucht es für eine gute Co-Leitung?
Eine unerschütterbare Vertrauensbasis mit der anderen Person, man muss einander wirklich gut kennen. Und man muss sich ergänzen. Mattea bringt Fähigkeiten mit, die ich einfach nicht habe. Deshalb wäre es sicher ein schlechteres Präsidium geworden ohne sie. Ob es auch ohne mich gegangen wäre, ist natürlich eine andere Frage (lacht).
Wo ergänzt ihr euch?
Ich bin zum Beispiel viel harmoniebedürftiger und konfliktscheuer als sie. Sie haut eher mal auf den Tisch und sagt: «Jetzt machen wir das so, auch wenn es erst zu 80 Prozent stimmt.» Und manchmal ist es auch gut, wenn ich sage: «Das müssen wir uns nochmal genauer überlegen.» Das Wertvollste für mich ist aber, dass Mattea als Frau eine andere Erzählbiografie mitbringt.
Was meinst du damit?
Ich finde es gerade im Bereich der Gleichstellungspolitik extrem wichtig, dass sich Männer endlich anfangen zu äussern. Gleichstellung und Vereinbarkeit sind auch Männerthemen, und es geht nicht voran, wenn wir dazu schweigen. Aber ich habe nicht die gleichen biografischen Erlebnisse wie eine Frau. Ich weiss nicht, wie es sich anfühlt, im Ausgang immer dumm angemacht zu werden.
Trotz Co-Präsidium: Wie fühlt man sich eigentlich so als Posterboy der SP?
Ich weiss nicht, ob ich als Posterboy tauge!
Naja, du bist es auf jeden Fall.
(Kichert.) Das stimmt. Das wird man wohl ungewollt. Bis zu einem gewissen Grad gehört es aber natürlich zum Job und ist Teil einer Rolle. Aber eine Rolle, die mir je länger desto weniger gefällt. Vor 15 Jahren fand ich es noch viel cooler, so stark in der medialen Öffentlichkeit zu stehen, das passt ja auch zum Hormonspiegel in diesem Alter. Mittlerweile finde ich es aber teilweise eher unangenehm.
Warum?
Ich merke das vor allem, seit ich Familie habe. Ich kann mich oft nicht mehr öffentlich bewegen, ohne dass ich erkannt werde. Das ist auch immer wieder schön, aber es bedeutet auch eine hohe soziale Kontrolle. Ich kann an einem Strassenfest nicht einfach betrunken an einen Laternenpfahl pinkeln, das steht am nächsten Tag ja in allen Zeitungen (lacht). Das schränkt natürlich schon ein.
Du hast für deinen Wahlkampf 2019 dieselbe Agentur engagiert wie die US-Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez. Müssen Männer Frauen alles nachmachen?
Klar, wenn sie erfolgreich sind! (Lacht.) Warum auch nicht? Fairerweise muss ich sagen: Diese Agentur hat nur das Plakat gemacht, der Rest der Kampagne kam von einer Schweizer Agentur. Aber Politik besteht ja daraus, Dinge, die andere gut gemacht haben, zu übernehmen und zu verbessern. Man muss einfach dazu stehen, ich habe damit keine Probleme.
Du bezeichnest dich selbst als Marxisten. Was ist denn deine Lieblingsstelle aus dem feministischen Klassiker «Aufstand aus der Küche» von Silvia Federici?
(Lacht laut.) Ich muss gestehen, das habe ich nicht gelesen. Mein Lieblingsbuch von Silvia Federici ist ein anderes, und zwar «Caliban und die Hexe». Das war für mich augenöffnend. Ich habe bei der Lektüre zum ersten Mal verstanden, wie Kapitalismus, die Zerstörung der Natur und die Ausbeutung und Unterdrückung der Frauen zusammenhängen.
Ich lasse es dir ausnahmsweise durchgehen.
Danke vielmals.
Wie fühlst du dich im Bundeshaus eigentlich so unter all den Frauen? Schüchtert dich das ein?
Überhaupt nicht, im Gegenteil. Es hat zu einer Entspannung der Atmosphäre geführt, dass mehr Frauen gewählt wurden. Nicht, weil sie entspannter politisieren, sondern weil das Themenspektrum breiter geworden ist. Aber wenn ich sehe, wie auch in der SP Männer reihenweise abgewählt werden, macht mich das natürlich schon ein wenig nervös.
Die Uhr tickt!
Haha, ja. Auf persönlicher Ebene sind Abwahlen auch oft sehr ungerecht. Aber es war auch lange so, dass Männer gewählt wurden, weil sie Männer sind. Die SP hat sich dafür eingesetzt, dass sich das ändert.
Kann man als Vater in der Schweiz überhaupt eine ernstzunehmende politische Karriere hinlegen?
Das ist eine gute Frage. Ich kann sie dir vielleicht in zehn Jahren beantworten, wenn ich es bis dahin schaffe (lacht). Es gibt zwar viele Väter, die erfolgreich sind in der Politik. Aber ich kenne wenige, die nicht das sogenannte klassische Familienmodell leben. Für uns stand ein solches Modell gar nie zur Debatte. Ich würde sagen: Ja, es ist möglich, aber es braucht vom Umfeld, sowohl privat als auch beruflich, sehr viel Bereitschaft zur Mithilfe.
Inwiefern?
Mattea und ich mussten immer wieder dafür kämpfen, dass Sitzungen halt auch mal am Mittag und nicht immer am Abend stattfinden. Damit wir dann bei der Familie sein können. Das stiess zu Beginn nicht nur auf Begeisterung in Bundesbern.
Und heute?
Heute haben die meisten unseren Rhythmus akzeptiert. Alle haben gemerkt, dass die Welt nicht untergeht, wenn man Dinge anders macht als früher. Es braucht neben dem beruflichen aber wie gesagt auch das private Umfeld, das mithilft.
Wer ist das bei euch?
Vor allem die Grosseltern. Ohne sie wäre es für uns nicht möglich, Vereinbarkeit leben zu können.
Bei den Wahlen 2019 hast du dich parteiintern gegen Yvonne Feri durchgesetzt. Das war schon mutig, gegen eine Frau anzutreten. Warum hast du dich für die Kandidatur entschieden?
Weil ich in dieser Situation überzeugt war, dass es richtig ist. Weil wir im Kanton Aargau sonst einen Sitz im Nationalrat verloren hätten. Und weil sich die SP Aargau in Sachen Gleichstellung wirklich nichts vorwerfen lassen muss.
Wirklich?
Unsere Ständerätin war vorher eine Frau. Und ich bin der letzte Mann, den die SP Aargau in Bundesbern noch hat und in den nächsten Jahren haben wird. Wir haben zudem sehr viele talentierte Frauen, die nachrücken werden.
Und wie fühlst du dich so als Auslaufmodell?
(Lacht.) Ich lebe relativ gut damit, den Abschied des Patriarchats quasi persönlich miterleben zu können. Ich bin ja genau der Quotenmann, der noch reingerutscht ist!
Können Männer überhaupt feministische Politik machen? Ihr habt davon ja eh keine Ahnung.
Gute Frage. Mir haben die Frauen in meiner Partei einen Feminismus beigebracht, der mir sehr zusagt. Nämlich, dass jeder Mensch sein Leben so gestalten kann, wie man das möchte. Dann sehe ich nicht ein, weshalb nicht auch Männer feministische Politik machen sollten. Das führt ja auch zu einer Befreiung aus einer Rolle, die ich als Mann vielleicht nicht einnehmen will.
Welche Rolle?
Die des machoiden Alleinernährers zum Beispiel. Deshalb müssten Männer eigentlich ein grosses Interesse an feministischen Bestrebungen haben. Etwas darstellen zu müssen, das man nicht ist oder nicht will, bringt einen riesen Druck mit sich: Auch Männer wollen nicht immer nur stark sein müssen. In diesem Sinne ist der Feminismus für mich auch eine Aufforderung für eine entspanntere Haltung zum Leben.
Was müssen Männer jetzt für den Feminismus tun?
Es gibt bestimmte Aufgaben, die tatsächlich nur Männer übernehmen können. Gerade wenn es um Gewalt an Frauen geht. Es liegt jetzt an uns, zu sagen: Hey, das geht einfach nicht. Wir müssen mit unseren Freunden und Söhnen darüber sprechen und reflektieren, wo unsere Fehler liegen. Hier braucht es männliche Vorbilder, die zeigen, dass man eben nicht der Macho sein muss. Dass es gar nicht cool ist, Frauen doof anzumachen oder auszunutzen. So wie es lange starke Frauen als Vorbilder brauchte, braucht es jetzt auch «normale» Männer. Hier fehlt eine männliche Stimme, gerade auch in der Debatte um sexualisierte Gewalt und unsere Verantwortung diesbezüglich.
Was tust du denn dafür?
Ich könnte mehr tun. Es ist nicht ganz einfach. Wenn wir Männer ganz ehrlich mit uns selber sind, wissen wir, dass wir Teil des Problems sind. Jeder von uns hat sich in seinem Leben schon einmal gegenüber Frauen daneben benommen, hat sich sexistisch verhalten oder hat vom Patriarchat profitiert. Wir müssen Räume schaffen, in denen Männer diese Erfahrungen teilen können, ohne dafür dann durch die Schlagzeilen geschleift zu werden. Weil die Energie für Veränderungen aus genau diesen Erfahrungen kommt. Und dafür müssen sie zuerst geteilt werden können. Es gibt keinen Mann, der nicht mit Schuld ist. Oder ich hätte ihn bisher zumindest nicht kennengelernt. Das ist die Wahrheit. Und das ist ein schwieriger Moment, sich einzugestehen: Ich bin auch Teil des Problems. Aber das brauchts. Sonst kommen wir nicht vorwärts.
Wie können wir Frauen den Männern helfen, sich selber zu helfen?
(Lächelt, überlegt.) Es braucht Frauen, die das von ihrem männlichen Umfeld verlangen. Männer müssen spüren, dass die Gesellschaft eine Veränderung verlangt und dass es okay ist, Fehler zuzugeben und daraus zu lernen.
Diese armen Männer!
Haha, nein, man muss sicher nicht Mitleid haben. Eben, es ist jetzt an der Zeit, diese Beteiligung einzufordern. Das wird auch medial noch wenig gemacht. Man sieht zum Beispiel oft Frauen, die über sexualisierte Gewalt sprechen – und dann vielleicht noch Markus Theunert, der natürlich einen super Job macht. Sonst aber wenige Männer. Doch mittlerweile hat die Diskussion einen Reifegrad erreicht, wo wir einen Schritt weitergehen könnten.
Trägst du beim Nachhauselaufen lieber den Schlüssel als Waffe in der Hand oder machst du den Kopfhörer-Trick?
Immer Kopfhörer. Allerdings natürlich aus anderen Gründen als Frauen. Das war mir lange nicht bewusst, wie krass das eigentlich ist, dass Frauen sich solche Tricks aneignen müssen.
Letzte Frage: Uns sagen in letzter Zeit viele Männer ab. Haben die Angst?
Ja, sicher. Also vielleicht nicht vor elleXX, aber sicher vor der Konfrontation mit der eigenen gesellschaftlichen Position und davor, darüber Rechenschaft ablegen zu müssen. Und vor der daraus folgenden Erkenntnis, dass man vieles wohl nicht aufgrund des eigenen Heroismus erreicht hat. Das war und ist auch für mich nicht einfach.
Du hast es jedenfalls gut gemacht.
Ich versuche zu lernen. Durch die Frauen in meiner Partei habe ich aber auch schon ein bisschen Übung.
Das Womansplaining war dir also eine gute Schule.
Genau.