Als langjähriger Grossmünsterpfarrer musst du es wissen: Ist Gott weiblich?
Gott ist weder männlich noch weiblich. Gott sprengt alle Bilder und Vorstellungen von Geschlechtern.
Gott ist also geschlechtslos?
Gott ist auch nicht geschlechtslos. Es ist eine Kraft. Wir haben das Bilderverbot der jüdischen Tradition. Historisch finden sich weibliche und männliche Gottesbilder. Diese Frage nach weiblich oder männlich ist eine soziale Konstruktion. Damit muss man vorsichtig umgehen. Gott stammt übrigens vom altdeutschen Wort Ghutto, das Angerufene. Und das ist sehr passend.
Aber auf Deutsch heisst es DER Gott?
Ja, und das ist zu hinterfragen. Untersuchungen bei Gottesbildern von Kindern haben gezeigt, dass diese symbolische Figur des väterlichen Mannes mit Bart im Jugendalter plötzlich weiblichen Motiven weicht, der Gott wird zur Sonne.
Die Entwicklungs- und Religionspsychologie sowie die feministische Theologie arbeiten an der Dekonstruktion des männlichen Gottesbildes. Gott sei ein Mann, höre ich fast nicht mehr.
Soll man denn gendern und Gott:in schreiben?
Solche Versuchsbewegungen sind sehr zu begrüssen. Religion hat mit Emotionen zu tun. Religion ist die Sprache des Glaubens, die Sprache der Liebe. Und Bilder sind die Lokomotive dieser Sprache. Gott wird ein Geheimnis bleiben.
Dann schauen wir uns doch die Sprache des Glaubens in der Bibel an. Der Mann ist in der Bibel entweder Heiliger oder Hure, warum so ein einseitiges Bild?
(Guckt kurz verdattert.) Ja, zugegeben. Die Kirche war ein Patriarchat. Das sind Texte, die vor Unterdrückungssituationen nur so strotzen. Wir wissen auch dank der feministischen Theologie, dass es zahlreiche patriarchalische Eingriff in die biblischen Texte gab. Junia wurde dann zu Junius.
Hatte es in der Bibel also ursprünglich mehr weibliche Figuren?
Ja, ganz klar. Und Bischöfinnen wurden rausgeschrieben. Und da ist diese Figur der Lydia, eine Purpurhändlerin und Unternehmerin. Sie hat die Jünger bei sich zu Hause aufgenommen. Ohne sie hätte der Jüngerkreis nicht überleben können. Und die Zeugen waren Frauen, die Zeuginnen der Auferstehung waren Frauen, nicht Männer. Und bei Jesus hat man alle Emotionalität wegredigiert, sein Lachen, seine Wesenszüge.
Aber wir wollen hier auch nicht beschönigen. Immerhin hat Jesus ja zwölf Apostelinnen gewählt …
Ja, wir wollen nicht beschönigen.
Und dann diese immer noch tief verankerte Kirchentheorie, dass Männer verunglückte Frauen sind? Warum dies?
(Stutzt, sichtlich verblüfft.) Das habe ich jetzt noch nie gehört.
Eben, Frauen hören das immer noch. Deswegen frage ich.
Ah, du kehrst alles um? (Lächelt gütig.)
Findest du, dass ich mit diesen Fragen die von Gott gegebene Ordnung durcheinanderbringe?
Also verunglückt ist so oder so gar niemand. Und es ist wahr, dass diese Rippe, dieses Bild der Rippe von Adam, aus der Eva erwachsen ist, ein sehr einprägsames Bild ist und uns damit unglaublich gebremst hat.
Alle Weltregionen misstrauen dem Mann, setzen Männern enge Grenzen, Kleidervorschriften und dergleichen. Warum eigentlich?
(Hält erneut inne, setzt dann seufzend an.) Ja, die Unterordnung der Frau durch den Mann, das war leider auch bei den Reformatoren so. Dies zu durchbrechen, ist eine andauernde Aufgabe.
Jetzt mal ernsthaft: Religionen gelten nicht als besonders frauenfreundlich. Für Historiker:innen sind Religionen gar der Grund für die soziale Ungleichheit zwischen Mann und Frau. Wie siehst du das?
Ja, wir dürfen die Wirkungen von biblischen Texten nicht mehr tabuisieren, sondern müssen sie offenlegen. Die Kirche hat sich da viel Schuld in der menschlichen Geschichte aufgeladen und patriarchale Strukturen zementiert. Darüber müssen wir reden.
Genau, darüber will ich reden: Die Weltreligionen haben die männliche Dominanz in der Gesellschaft legitimiert. Es sind Religionen von und für Männer. Religion ist alles andere als geschlechtsneutral.
Und das hatte verheerende Auswirkungen, gipfelnd in der Ausgrenzung der Frauen vom Klerikerstand im Katholizismus. Aber auch lange bei den Reformatoren. Man stelle sich vor: In der reformierten Kirche wurde 1918 die erste europäische Frau in der Schweiz im St. Peter in Zürich ordiniert, wurde aber als Sozialarbeiterin am Grossmünster angestellt, nicht als Pfarrerin. Die ersten gewählten Pfarrerinnen kamen in den 1960er Jahren. Wir sahen immer wieder Zusammenbrüche dieses Fortschritts, Rückschritte, Retraditionalisierung …
Worauf spielst du an?
Ich beobachte aktuell wieder eine Retraditionalisierung. So viele Frauen nehmen den Namen ihres Mannes an. Und fast alle lassen sich praktisch von einem Mann zum nächsten übergeben, vom Vater zum Ehemann. Patriarchalischer geht es kaum: wie eine Kuh, die von einem Stall in den anderen übergeben wird. Ich sage das auch offen und direkt in den Vorgesprächen, aber sie halten trotzdem daran fest.
Du kämpfst also gegen patriarchalische Strukturen, hast aber innerhalb dieser Strukturen als Pfarrer des Grossmünsters dennoch eine der höchsten Führungspositionen erklommen?
(Mildes Nicken.) Ja, verrückt, und das als Grenzgänger: Ich repräsentiere eigentlich das Matriarchat und arbeite in patriarchalischen Strukturen. Ich bin hochsensibel gegenüber Machtstrukturen. Ich leide darunter, wenn ich dazu beitrage.
Entschuldige, aber du bist der Inbegriff eines Machos, du bist Mitglied zahlreicher Männerclubs, Feldprediger in der Armee, Mitglied einer Zunft und im Rotary Club?
Das stimmt. Ich darf dort sitzen, wo die Macht ist – und zwar für die Ohnmächtigen. Ich arbeite an der Umverteilung der Macht. Dort, wo die Schwachen keine Stimme haben, muss ich sie für sie erheben. Ich halte im Grossmünster Beerdigungen für Köbi Kuhn, aber genauso für den Heiri vom Obdachlosenheim. Man darf sich nicht korrumpieren lassen von der Macht. Ich fühle mich in diesen Zirkeln – trotz Freundschaften – im Übrigen auch nicht immer wohl. Manchmal ist Macht eine Gratwanderung zwischen Profit und Prostitution.
Oha, so oder so bist du anscheinend ein wahrer Power-Mann: Obwohl du die grösste Kirchgemeinde der Schweiz führst, hast du Kinder bekommen, warum?
Ich liebe Kinder, ich wollte eigentlich eine ganze Fussballmannschaft haben. Doch wir haben erst ganz spät Kinder bekommen, erst als wir losgelassen haben. Es ist ja nicht lustig, auf Knopfdruck Sex zu haben.
Bügelst und wäschst du den Talar selbst?
Den bringe ich in die chemische Reinigung, sonst aber wäscht und bügelt meine Frau. Ich bügle beim Arbeiten.
Wie hast du das alles geschaukelt, Hausarbeit, den Talar in die chemische Reinigung bringen, für die Kinder kochen, Seelsorge, Predigen, Schulausflüge und Ferien organisieren?
Okay, wir haben gemeinsam ein konservatives Modell gewählt. Sie hat die Familienarbeit gewählt, weil ich ehrgeiziger war als meine Frau. Und mein Lohn geht auf ihr Konto, sie gibt mir Taschengeld. Übrigens, einen Tag in der Woche habe ich schon übernommen, den Mittwoch.
Dann hast du also doch mittwochs gebügelt?
Nein. Fussball gespielt … (Lächelt verschmitzt.)
Hattest du als Vater nie ein schlechtes Gewissen, etwas zu verpassen?
Das hat jeder. Das hat man heutzutage. Das ist ein grosser Stressfaktor in unserer Gesellschaft. Man kann nie genügen in unserer Welt, weder als Vater noch als Mutter.
Ist dir der Job wichtiger als die Familie?
Beides ist mir gleich wichtig. Mein Job ist meine Berufung. Aber die Familie geht vor. Das werden wohl nicht nur Frauen gefragt. Das werde ich ständig gefragt.
Wie gehst du eigentlich mit Hormonschwankungen um?
Wie Frauen auch. Es nervt mich.
Und die Andropause?
Uff, das ist ein Riesenthema bei den Männern in der Seelsorge. Noch ein letztes Mal Potenz zeigen im Leben. Ich versuche dann, dies zu relativieren. Das wichtigste Instrument im Fitnesssport ist der Humor. Und den habe ich persönlich in der DNA, den trainiere ich immer.
Hat dein gutes Aussehen deine Karriere beeinflusst?
Ja schon, denke ich. Ernsthaft: Ich bin gross, trage Bart und habe eine laute Stimme. In der Armee als Feldprediger habe ich schon gesehen, dass kleine Männer zehn Kilometer weiter hinten starten im Leben und es ungleich schwerer haben.
Du wurdest also auch wegen deines Aussehens befördert?
Ja, leider. Ich entspreche ja dem bestehenden Männlichkeitsbild und -kult.
Auf was achtest du bei deinem Look?
Jetzt achte ich darauf, die keimende Glatze und den Ranzen zu vertuschen. Aber mit dem graumelierten Bart hatte ich schon mein Clooney-Momentum. Bei Pfarrern sind die Groupies allerdings immer zwischen 60 und 80 Jahre alt.
Darf ich das alles so bringen?
Meinen Segen hast du. (Wieder dieses gütige Lächeln.)
(Journalistin guckt ein letztes Mal ungläubig). Danke für dieses ehrliche Gespräch.