Für meine Tochter Ronja, die eine Entwicklungsstörung hat, muss ich bei der IV immer wieder Anträge zur Kostenübernahme beantragen, zum Beispiel für Hilfsmittel oder umfangreiche medizinische Abklärungen. Meine Fragen werden oftmals schon am Telefon abgewunken, als unrechter Antrag verdächtigt und nicht selten in harschem Ton kommentiert, da Ronjas Entwicklungsstörung von der IV nicht als Geburtsgebrechen anerkannt ist. Den Verdacht, dass wir Leistungen für Ronja bekommen könnten, die uns nicht zustehen, oder wir mit Ronjas Behinderung übertreiben, spüre ich aber nicht nur von Behörden, sondern auch aus der Gesellschaft.
Ein Beispiel: Vor ein paar Jahren bewarben wir uns bei der Stadt Zürich für eine günstige Wohnung ohne Treppen. Als wir diesen begehrten Wohnraum unter anderem wegen Ronjas Behinderung zugesprochen erhielten, ernteten wir nicht nur Freude, auch Verdacht und Neid. Kommentare wie: «Sie kann ja laufen, warum braucht ihr dann diese Wohnung?» oder «So stark behindert ist sie doch gar nicht», haben mich damals sehr belastet.
Die Haltung, Betroffene und Angehörige könnten sich Leistungen bei der IV oder der Sozialhilfe erschleichen, sie könnten Unterstützung von der Stadt, dem Kanton oder von Stiftungen erhalten, die ihnen nicht zustehen, ist in der Schweiz stark verbreitet. Das hat aber vermutlich weniger mit den einzelnen Menschen oder bösen Absichten zu tun als vielmehr mit einer verdachtsschürenden Politik der letzten Jahrzehnte. Eine Politik, die sich sowohl bei Behörden wie auch in den Köpfen vieler Bürger:innen festgesetzt hat.
Das Online-Magazin «Das Lamm» recherchierte dazu in diesem Frühjahr umfangreich und erklärte die Vorurteile aus historischer Sicht: «Der Invaliditätsbegriff in der Schweiz ist eng verknüpft mit der Erwerbsarbeit: Als Mensch mit Behinderung gilt, wer nicht arbeiten kann – die Diagnose und das Leiden der Einzelnen hingegen ist zweitrangig.» Bereits das Wort «invalid» ist dabei bezeichnend. Es kommt aus dem Lateinischen und bedeutet «wertlos». Die IV ist also übersetzt die Versicherung der Wertlosen. Die Versicherung derer, die nicht arbeiten und daher fälschlicherweise oft als faul gelten.
«Das Lamm» führt zudem aus, wie sich das Narrativ der IV-Betrüger:innen in der Schweiz etablierte: Im Jahr 2003 machte der Ex-Bundesrat Christoph Blocher im Wahlkampf die ‹Scheininvaliden› zur Zielscheibe einer SVP-Hetzkampagne. Bezüger:innen von IV-Leistungen würden sich Renten erschleichen wollen, hiess es damals überall. Die SVP schürte damals die Angst, die IV komme durch diese Betrüger:innen in eine defizitäre Lage.
Was jedoch nie eintraf. «Es gelang der Volkspartei, den ‹Scheininvaliden› – einen Begriff, den sie von der konservativen österreichischen Volkspartei entlehnt hatte – im öffentlichen Diskurs festzusetzen», so das Online-Magazin. Medienleute und Politiker:innen anderer Parteien seien dadurch gleichsam gezwungen gewesen, den Begriff zu verwenden. Durch dieses Behaupten und Unterstellen sei ein Wertewandel herbeigeführt worden. Zunehmend mussten Bezüger:innen sich rechtfertigen und sich ihren Anspruch «verdienen». Familien wie wir und Selbstbetroffene spüren diesen Wertewandel bis heute.
Dabei ist die These der vielen IV- und Sozialhilfe-Betrügerinnen falsch. Das Magazin «Beobachter» deckte in einer Reportage auf: «Bei der Sozialhilfe gibt es eine Missbrauchsquote zwischen zwei und zehn Prozent. Bei der IV ‹vermeidbare Kosten› von fünf bis zehn Prozent.» Das heisst: Im Vergleich mit anderen Versicherungen hat die IV nicht mehr, sondern eher weniger Betrüger:innen oder Bezüger:innen, die mehr erhalten, als ihnen zustehen würde.
Dabei handelt es sich unter anderem auch um Beiträge, die sehr klein sind oder wovon die Bezüger:innen gar nicht wissen, dass sie ihnen nicht (mehr) zustehen. Ganz anders sieht es hingegen bei Privathaftpflichtversicherungen aus. Dort schätzt man, dass die Betrugsquote bei bis zu fünfzig Prozent liegt. Dennoch herrscht in diesem Segment kein Grundsatzverdacht wie bei den IV-Anträgen. Auch wenn durch die Privathaftpflicht weltweit jährlich über 100 Milliarden Dollar zu viel ausbezahlt und letztlich auf alle Versicherten überwälzt werden.
Die Betrugsquote bei der IV wäre gegen die Zahlen der anderen Versicherer vernachlässigbar; es gibt viel grössere Missstände bei anderen Versicherungen – damit lässt sich jedoch weniger polarisierend und reisserisch Politik auf Kosten der Schwächsten in unserem System betreiben. Genauso wenig wie mit der Frage, die mir persönlich noch viel relevanter erscheint: Wie viele Menschen bekommen in der Schweiz eigentlich keine IV-Leistungen zugesprochen, obwohl sie ihnen zuständen? Zum Beispiel, weil sie die Behördensprache nicht verstehen oder keine Ressourcen für die umfangreichen und komplizierten Anträge haben? Oder sich schämen, Leistungen zu beantragen?
Wie viele Menschen haben eine Behinderung und bekommen kaum Hilfe, weil ihre Diagnose von der IV nicht anerkannt ist – wie meine Tochter? Wie viele Menschen haben ein chronisch krankes Kind und müssen mehrere Rekurse einlegen für die Kostenübernahme lebenswichtiger Behandlungen – mit dem Risiko, dass das Kind in der Zwischenzeit stärker krank wird?
Sowohl Arbeitgebende als auch Arbeitnehmende zahlen jährlich in die IV ein. Betroffene müssten sich also mitnichten für die Beanspruchung der Leistungen schämen oder rechtfertigen, für die ihre Angehörigen oder sie selbst sehr viel Geld bezahlt haben. Für Leistungen einer Versicherung, die geschaffen wurde, weil jeder Mensch in dieser Gesellschaft von heute auf morgen einen Unfall haben kann – ähnlich wie die Krankenkassen. Weil jeder Mensch in dieser Gesellschaft von heute auf morgen erkranken kann, jede:r von uns unter Umständen einmal mit einer Behinderung leben wird. Auch diejenigen, die heute noch mit dem Finger auf die anderen zeigen, weil diese angeblich scheininvalid sind oder betrügerische Absichten haben.
Als Mitbetroffene wünsche ich mir ein wohlwollenderes System und Denken. Eines, das den Menschen vertraut und sie ohne Grundsatzverdacht behandelt. Ich hoffe, dass wir neue Narrative schaffen in den nächsten Jahrzehnten und von der Erfindung der vielen Betrüger:innen wegkommen. Hin zu einem Denken, dass jeder Mensch in dieser Gesellschaft individuell ist und daher auch unterschiedlich viel oder wenig Hilfe benötigt. Und die Menschen, die IV-Leistungen beziehen, sich dann genauso wertvoll und ernst genommen fühlen können wie alle anderen auch.