Ich hatte diesen Text schon zu Ende geschrieben, als ich das Video der ausserordentlichen Generalversammlung des spanischen Fussballverbandes sah: Luis Rubiales, der amtierende Präsident des Verbandes und Vizepräsident der Europäischen Fussball-Union Uefa, verkündet mit Nachdruck, dass er von seinem Präsidentenamt nicht zurücktreten wird. Dann schwenkt die Kamera ins Publikum. Zahlreiche Anwesende applaudieren, es gibt gar eine standing ovation. Ich bin angewidert.
Hat mich sein Statement überrascht? Nein. Aber ich bin so angewidert, dass ich diesen Text eigentlich gar nicht mehr veröffentlichen möchte. Angewidert, dass der grösste Triumph der Fussballerinnen überschattet wird von Misogynie und sexualisierter Gewalt. Angewidert angesichts der Tatsache, dass uns wieder vor Augen geführt wird, dass wir in einer sexistischen und patriarchalen Gesellschaft leben. In einer sogenannten rape culture, in der Männer anderen Männern erlauben, sexuelle Übergriffe zu begehen, ohne dafür die Verantwortung übernehmen zu müssen. In der Männer einem übergriffigen Mann mit Applaus begegnen, und das sogar dann noch, wenn der Übergriff vor den Augen der Weltöffentlichkeit geschah und sich die betroffene Frau klar positioniert und die Handlung Rubiales’ als übergriffig benannt hat.
Worum es geht? Rubiales hat bei der Fussballweltmeisterschaft während der Pokalübergabe der Spielerin Jennifer Hermoso ungefragt einen Kuss auf die Lippen gedrückt und dabei ihren Kopf festgehalten. Das Verhalten war nicht nur völlig inadäquat und unprofessionell, sondern auch sexuell übergriffig. Man küsst niemanden auf den Mund, bevor man sich nicht sicher ist, dass das Gegenüber das auch möchte. Was zwischen zwei Menschen, die privat und auf einer Augenhöhe miteinander in Beziehung stehen, schon gilt, ist in Anbetracht der Machtasymmetrie zwischen dem Präsidenten eines Fussballverbands und einer Spielerin Machtmissbrauch und klar zu verurteilen. Ende der Geschichte? Leider nein.
Was seit diesem sexuell übergriffigen Kuss geschah, ist sinnbildlich für eine Gesellschaft, in der sexualisierte Übergriffe an Frauen immer noch ignoriert, toleriert und verharmlost werden. Zwar haben zahlreiche, auch öffentliche und mächtige Personen wie Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez, den Kuss verurteilt. Gleichzeitig haben aber ebenso öffentliche und mächtige Personen wie das Aufsichtsratsmitglied des FC Bayern Karl-Heinz Rummenigge, Rubiales in Schutz genommen und gleichzeitig all diejenigen verspottet und abgewertet, die sich gegen den Verbandspräsidenten aussprachen und ihre Solidarität mit Hermoso kundtaten.
Was seither passiert ist, ist ein Einmaleins der rape culture: Rubiales sieht sich gezwungen, sich zu «entschuldigen», wobei sein Statement mehr einer «nonpology» (eine Entschuldigung, die keine ist), gleicht. Einige Tage später wurde der öffentliche Druck so gross, dass auch der Fussball-Weltverband FIFA reagierte und eine interne Untersuchung ankündigte. Und Rubiales selbst hat verlauten lassen, dass er sich am Freitag zu einem möglichen Rücktritt äussern wird.
Nun ist also der besagte Freitag. Der spanische Fussballverband hat eine ausserordentliche Generalversammlung einberufen, Rubiales tritt ans Mikrofon. Er sagt, er habe die «Kontrolle verloren». Damit nimmt er sich nicht nur aus der Verantwortung, sondern befeuert noch den Mythos, dass sexualisierte Gewalt aus Versehen geschieht. Weiter verharmlost er den Kuss, indem er sagt, er hätte auch seine Tochter so küssen können. Diejenigen, die ihn eines sexuellen Übergriff bezichtigen, bezeichnet er als «Vertreterinnen des falschen Feminismus», um dann im Sinne der Antifeministen und Misogynen zu behaupten, dass diese Frauen eine «grosse Last unseres Landes» seien.
Und als wäre das nicht genug, befeuert er noch den mächtigsten Mythos und bezichtigt alle, die sich hinter Hermoso gestellt haben, indirekt des Lügens («Gleichberechtigung bedeutet, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden»), während er wiederum für die Wahrheit stehe. Schliesslich folgt noch ein Rundumschlag, indem Rubiales die Kritik als Gewalt («Hexenjagd») und Kampagne abtut, sich selber dabei als Opfer inszeniert, die Verantwortung abschiebt und sich dann abgrenzt von den wirklich schlimmen Männern, die «wahre» Übergriffe begehen.
Dann sagt er, er werde nicht zurücktreten. Er sagt es mehrmals, er sagt es feierlich, kämpferisch. Die Kamera schwenkt ins Publikum. Während die Frauen versteinert da sitzen, applaudieren zahlreiche Männer. Dieses Bild spricht Bände.
Stellt euch eine Welt vor, in der ein mächtiger Mann auf den Vorwurf sexueller Belästigung reagiert, indem er sich wahrhaftig entschuldigt, die Konsequenzen seines Handelns übernimmt und seine Machtposition aufgibt. Um sich danach dafür einzusetzen, dass Männer in Machtpositionen ihre Macht nicht mehr missbrauchen und wenn sie es tun, dass sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden. In so einer Welt möchte ich leben. Und du?