Macht er einen Fehler, brechen schlimmstenfalls Mörder wie der von Rupperswil aus: willkommen im Alltag des Gefängnisdirektors von Lenzburg. Und willkommen bei den Männerfragen, Marcel Ruf.
Bestens gelaunt trotz vollem Terminkalender und ständig klingelndem Mobiltelefon – die Assistentin ist in den Ferien – nimmt sich Marcel Ruf an diesem Vormittag Zeit für das Interview, bei dem wir Männer fragen, was sonst nur Frauen gefragt werden. Ein Gespräch über Insassen, die Theater spielen, Knackis, die prügeln, und Techniker, die Dostojewski lesen.
In Ihren 20 Jahren als Direktor der Justizvollzugsanstalt (JVA) Lenzburg haben Sie diese zu einem international geachteten Gefängnis gemacht. Dabei zweifelt Ihr Männer im Beruf oft am eigenen Können. Was ist bei Ihnen anders?
(Fragendes Gesicht.) Ich glaube nicht, dass Männer etwas nur machen, wenn sie überzeugt sind, dass es funktioniert. Das ist doch eher eine weibliche Eigenschaft?
Die Frage war ironisch.
Ach so. Also: Ich kann nur von mir reden. Ich mache auch neue Sachen, von denen ich nicht weiss, ob sie funktionieren. Schlimmstenfalls beende ich den Versuch als gescheitert. Zudem: Mein Vorgänger hat vieles richtig gemacht, davon profitierte ich. Auch das von Ihnen angesprochene international geachtete Gefängnis war nicht mein Verdienst. Sondern der des norwegischen Krimiautors Jo Nesbø, der in einem seiner Bücher Lenzburg plakativ als Vorbild für ein Gefängnis beschrieben hat.
«Schlimmstenfalls beende ich den Versuch» – Sie sind gut. Der Vierfachmörder von Rupperswil oder der Mörder von Lucie sassen in Lenzburg. Keine schlaflosen Nächte gehabt, sie könnten ausbrechen, weil Sie etwas übersehen haben?
Gut, ich relativiere: Wenn wir etwas Neues versuchen oder etwas Altes reaktivieren, dann nur unter der Prämisse, dass die Sicherheit jederzeit gewährleistet ist.
Sie schlafen ruhig?
Mögliche Ausbrüche halten mich nicht wach. Habe ich mal eine schlaflose Nacht, geht es um persönliche Herausforderungen. Entscheide, die mit Mitarbeitenden oder Insassen zu tun haben.
Bei so vielen Männern auf einem Haufen: Wie gegenwärtig ist Zickenkrieg in Ihrem Gefängnis?
Das Klischee ist wahr: Laut meiner Kollegin vom Frauenvollzug werden Konflikte dort verbal ausgetragen. Bei uns beim Männervollzug wird es dagegen durchaus mal körperlich.
Sie investierten als erster Schweizer Gefängnisdirektor in eine Drohnenabwehr. Technik ist sehr wichtig für die Sicherheit der JVA Lenzburg. Es gibt etwa Wärmebildkameras und ein System, das beim Einschalten eines Handys Alarm schlägt. Nur: Wie kommen Sie als Mann mit so viel Technik zurecht?
(Rufs Handy klingelt, er entschuldigt sich, nimmt ab, hört kurz zu und fragt, ob er zurückrufen könne.) Entschuldigung, meine Assistentin ist in den Ferien. Sie hatten mich als Mann nach der Technik gefragt?
Genau.
Es stünde mir fern zu sagen, Männer könnten es mit der Technik besser als Frauen … (lacht). Ich komme aus einem technikaffinen Beruf, aus der Energie- und Verfahrenstechnik. Deshalb lag ein Schwerpunkt auf technischen Einrichtungen nahe. Aber: Ich habe auch eine künstlerische Seite.
Darauf kommen wir noch zu sprechen. Zuerst: Bei welchen Expertinnen holen Sie Rat, wenn Sie nicht weiter wissen?
Im Vollzugsalltag ist das meine Stellvertreterin, besonders bei juristischen Angelegenheiten. Im technischen Bereich sind es aber tatsächlich nur Männer. Schlicht mangels Frauen … Ob Mann oder Frau, ist mir völlig egal, es kommt auf den fachlichen Rucksack an.
Frauen werden signifikant häufiger straffällig als Männer …
… Frauen werden nicht häufiger straffällig als Männer.
Ich weiss – im Gegenteil. Die Zahlen sind so krass, dass ich Ihnen erneut eine ironische Frage untergejubelt habe.
Ach so. Ich war mir nicht sicher … Genau: Fünf Prozent der strafrechtlich relevanten Fälle werden von Frauen verübt, 95 Prozent von Männern. Anders formuliert: Bestünde die Gesellschaft nur aus Frauen, hätten wir eine sehr tiefe bis nicht vorhandene Kriminalitätsrate. Würden alle Männer zwischen 18 und 40 Jahren eingesperrt, hätten wir praktisch keine Kriminalität.
Auf dem Weg aus dem und ins Büro sind Sie mitten unter den Gefangenen. Sind Sie da rein körperlich froh, keine Frau zu sein?
Das Geschlecht spielt keine Rolle. Meine Stellvertreterin, die Leiterin Vollzug, hat als Frau keine Probleme. Unsere Gewerbemeisterinnen arbeiten mit bis zu acht Gefangenen alleine. Auch unsere Lehrpersonen sind hauptsächlich weiblich und mit zwölf Gefangenen alleine im Schulzimmer.
Lenzburg war 2011 die erste Schweizer Strafanstalt, die eine Altersabteilung für über 60-Jährige einrichtete. Plus: Insassen dürfen alle zwei Jahre ein Theaterstück aufführen. Das sind ja fast schon weibliche Soft-Skills?
Ach, das kommt auf das Jahrhundert an. Bei den Griechen und Römern waren nur Männer für das Musische zuständig.
Stimmt.
Bis 1967 gab es in Lenzburg Theateraufführungen, ich habe diese lediglich vor 14 Jahren wieder aktiviert. Ich finde Theaterspielen eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung. (Er kommt ins Schwärmen.) Theater aktiviert Körper und Geist. Ist Sport und mentale Weiterbildung. Und es erfordert Mut, auf einer Bühne zu stehen.
Unmännlich bescheiden, öffentlich zu sagen, dass dies gar nicht Ihre Erfindung war.
Weil es die Wahrheit ist. (Zuckt die Schultern.) Das amerikanische Gefängnis San Quentin hat übrigens mit Theaterspielen angefangen, und zwar 1957 mit «Warten auf Godot». Lustigerweise haben auch wir 2011 mit diesem Beckett-Stück gestartet. In Deutschland, Italien oder Rumänien ist Theater in vielen Gefängnissen Standard. In der Schweiz dagegen ist es schwierig, Theater in die Gefängnisse zu bringen.
Warum?
Es ist mit Aufwand verbunden. Obwohl bei uns viele Mitarbeiter mit Enthusiasmus dabei sind, gab es vereinzelt Widerstand beim Personal.
Das Personal hat Angst?
Angst? Nein, nein. Eher wenig Lust auf Zusatzaufwand. Sehen Sie: Die Aufführungen finden bei uns alle zwei Jahre an zwölf Abenden hintereinander statt. Da sitzt man zusätzlich zum Arbeitstag bis um halb neun Uhr abends in der Anstalt. Dazu wurde die Sinnhaftigkeit angezweifelt.
Weil weibliches «Gschpürsch-mi»-Zeugs?
Bei den Mitarbeitenden war das nie ein Thema. Bei den Gefangenen hingegen tatsächlich, ja. Da gab es Reaktionen wie: «Das ist doch was für Frauen oder Homosexuelle.»
Hoppla.
Ja. Zum Glück haben sich diese Vorbehalte nach der ersten Ausführung schnell gelegt. Alle haben gemerkt, dass Theater Arbeit bedeutet. So kam es zum Sinneswandel beim Personal, weg von der Skepsis, hin zur Freude.
Sie hatten ja auch prominente Zuschauerinnen wie Ex-Bundesrätin Simonetta Sommaruga.
Ja, Werbung müssen wir nicht mehr machen. Die 1300 Plätze pro Aufführung füllen wir allein mit Stammpublikum. Weiter wichtig: Das Theater kostet keinen Franken Steuergeld. Die Billett-Einnahmen bekommt die Regie. Mehr Lohn gibt’s nicht.
Apropos Zusatzaufwand: Sie haben als Gefängnisdirektor oft 7-Tage-Wochen – und trotzdem Familie. Wie geht das zusammen?
Fragen Sie meine Frau (lacht). Ich muss da ihr ein Kränzchen winden.
Ihre beiden Kinder sind inzwischen erwachsen. Keine Sorge, ob Sie diese beim Aufwachsen verpasst haben?
(Lehnt sich im Stuhl zurück.) Als ich angefangen habe im Gefängnis, waren meine Kinder in der 2. und 4. Klasse der Primarschule – somit aus dem Gröbsten raus. Aber: Im Job davor war ich wochenlang in China und Deutschland unterwegs, da ich Projektleiter in einem Ingenieurbüro war. Und da waren die Kinder wirklich klein. Das war für meine Frau wahrscheinlich die schlimmere Zeit als danach im Gefängnis. Auch ich merkte, so toll ist es nicht im Ausland mit kleinen Kindern daheim. Und so suchte ich etwas Neues.
Höre ich Gewissensbisse?
Wenn du wochenlang von der Familie getrennt im Ausland bist, fragst du dich schon nach dem Sinn. Als Single ist das vielleicht aufregend, mit Familie nicht. Ich merkte: Es wäre sinnvoll, mehr Zeit mit den Kindern zu verbringen. Lustig daran: Es war nie mein Ziel, ins Gefängnis zu gehen. Ich fand es ehrlicherweise einfach spannend, mal eines von innen zu sehen. Nur leider war das Vorstellungsgespräch direkt im Eingangsbereich in einem hundskommunen Büro.
Oh.
Die zweite Frage im Bewerbungsgespräch von meinem Vorgänger Martin Pfrunder war übrigens, ob ich lese. Ich bejahte. Dann haben wir fast eine Stunde lang nur über Dostojewski und Bücher geredet. Anscheinend hat es meinen Vorgänger beeindruckt, dass ich als Techniker lese. Ich hatte mich nicht als Direktor beworben, sondern als Sicherheitsverantwortlicher. Direktor wurde ich erst vier Jahre später.
Toll. Aber wir schweifen ab. Ihr Väter seid bekannt dafür, den Mental Load zu schultern. Nie mit leeren Händen an einem Kindergeburtstag erschienen?
Bei meinen Kindern?
Nein. Kinder werden ja dauernd an anderer Kinder Geburtstage eingeladen. Und da werden Geschenke erwartet.
Das hat meine Frau geregelt.
Mental Load kennen Sie nicht?
Meine Frau hat alles gemanagt. Ich habe 100 Prozent auswärts gearbeitet, sie 100 Prozent daheim. Aber: Ich habe vor der Geburt des ersten Kinds eine Liste erstellt mit Dingen, die wir nicht vergessen dürfen. Ich mag Listen. Obwohl, meine Frau würde hier wohl sagen: «Jaja, du magst Listen. Aber die Dinge darauf erledigst du dann doch nicht immer.»
Hilft Ihr gutes Aussehen eigentlich, um bei den Insassen besser anzukommen?
(Lacht.) Nein. Stellen Sie diese Frage jedem? Egal, wie gut er aussieht?
Erwischt. Das ist ein Klassiker der Männerfragen.
Dachte ich's mir doch. Aussehen spielt keine Rolle bei den Insassen. Das Auftreten dagegen schon, Selbstbewusstsein schadet nicht. Und Empathie ist wichtig. Es gelten die gleichen Höflichkeitsregeln wie draussen: auf die Leute zugehen und freundlich sein.
Vor einem schwierigen Arbeitstag: Wie lange brauchen Sie im Bad?
(Ruf steht auf, läuft kurz aus dem Bild, kommt zurück, das Handy am Ohr. Er bittet um Rückruf, verabschiedet sich.) Sie fragten, wie lange ich im Bad brauche? Ohne Duschen fünf Minuten, mit Duschen zehn Minuten.
Sie tragen ein blaues Hemd, das perfekt gebügelt aussieht. Wer bügelt das?
(Wie aus der Pistole geschossen.) Ich! Ich liebe Bügeln, insbesondere Hemden. Bügeln hat etwas Meditatives für mich.
Das wars. Wie wars?
Kein Problem. Ich war mir bloss nicht immer sicher, ob Sie etwas ironisch meinen oder nicht.
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