Die Kosmetikerin in New York, die Marktverkäuferin in Kolumbien, die Bäuerin in Vietnam, die Näherin in Kirgisistan, die Unternehmerin in Kambodscha, die Biologin in Costa Rica, die Regisseurin in Georgien und die Lehrerin im Kosovo. Acht Frauen, die etwas gemeinsam haben: Sie arbeiten ausserhalb der eigenen vier Wände und sorgen damit für das Überleben ihrer Familie. Und ihre Stimme verhallt im Lärm dieser Welt.
Unsere Gastautorin hat sie auf ihrer einjährigen Weltreise in ihren Wohnzimmern besucht, sie bei der Arbeit begleitet und gefragt: Warum tun sie, was sie tun? Und was sind ihre Träume?
«I had my whole life mapped out.» Als Teenagerin hatte Autumn Phyall (28) einen Plan für ihr Leben. New York war der Traum der jungen Frau aus dem US-Bundesstaat Kalifornien. Investigative Journalistin ihr Traumberuf. Die riesige Stadt, der «Big Apple», ist seit vier Jahren ihr Zuhause. Doch aus den Berufsplänen wurde nichts.
Bitterkeit über das Verblassen ihrer Träume schwingt in ihrer Stimme mit. Aber bereuen würde sie nichts. «I don’t live my life on regrets.» Typisch US-amerikanisch, Probleme und Schwierigkeiten haben in Gesprächen nichts zu suchen. Lieber malen die Menschen ein idyllisches Bild ihres Lebens – in Pastelltönen, ohne Ecken und Kanten, dafür mit von Hoffnung triefenden Umschreibungen. Eine Fassade, die auch Phyall über Jahre hinweg aufgebaut und perfektioniert hat.
«So ist das Leben in New York City»
Sie nimmt einen Schluck Eiskaffee. Im Nagelsalon Privilege Beauty Bar im New Yorker Stadtteil Brooklyn feilt sie gerade an den Fingernägeln einer Kundin. Seit etwas mehr als einem halben Jahr ist dieser Salon in einem Quartier in Brooklyn ihr Arbeitsort. Sechs Tage die Woche, manchmal auch sieben. Bis zu 13 Stunden pro Tag. Ihrer Chefin Jeanel geht es nicht anders: «So ist das Leben in New York City. Es geht nur darum, die Rechnungen bezahlen zu können.»
Phyall ist gerne Nageldesignerin, Hairstylistin, Make-up-Artistin und Beraterin. Im Schönheitssalon verbringt sie fast mehr Zeit als bei ihrer Tochter im eigentlichen Zuhause. Sie hat Regale an der Wand hinter ihrem Arbeitsplatz angebracht, die Nagellackfläschchen nummeriert und nach Farben sortiert. Bordeauxrot, Kirschrot, Tannengrün, Elfenbein. In der Schublade liegen ihre Werkzeuge, eine Feile, Pinsel, Acrylpulver. Routiniert und ohne hinzuschauen, greift sie nach den Gegenständen.
Dabei könnten es genauso gut Spritzen, Verbandsmaterial, Stethoskop oder Blutdruckmessgerät sein. Nach der Highschool begann Phyall ihre Ausbildung als Pflegefachfrau in Kalifornien – bis sie unerwartet schwanger wurde. Danach fehlten Zeit und Geld für die weitere Ausbildung.
Ein kleines Vermögen für ein Stück Papier
In New York sparte Phyall dann für die Kosmetikschule. Acht Monate lang lernte sie die verschiedenen Techniken. 9000 Dollar hat sie das Diplom gekostet. «Ich weiss nicht, ob es das wert war. Ich hätte all das Zeug mit Youtube lernen können», sagt Phyall. Aber das Dokument war wichtig, damit sie ihre Lizenz als Kosmetikerin erhielt. Mit dieser könnte sie irgendwann ihren eigenen Salon eröffnen. Genau das ist der neue Traum der jungen New Yorkerin. «Nein, willst Du nicht», sagt Jeanel und verdreht die Augen. «Doch, ich will ihn nur besitzen. Das heisst nicht, dass ich ihn auch betreiben muss.» Phyall grinst und zwinkert ihrer Arbeitskollegin und Chefin zu.
Phyalls Tochter Taylor ist sechs Jahre alt. «Es passiert gerade so viel in ihrem Leben. Sie wächst, wird unabhängiger, lernt dazu. Ich will eine Rolle in ihrem Leben spielen», sagt Phyall. Als alleinerziehende und arbeitstätige Mutter ist der Spagat zwischen Familie und Arbeit kein einfacher. Hilfe erhält Phyall von Freundinnen, die ebenfalls Mütter sind. Ihre Herkunftsfamilie lebt in Kalifornien, ebenso der Vater von Taylor. «Wir waren Highschool-Sweethearts.» Nach der Schulzeit zogen sie zusammen, er kaufte ihr ein Auto, die Tochter kam zur Welt. «Er versucht, ein guter Dad zu sein. Das muss ich ihm lassen. Er war immer eine grossartige Person, nur kein guter Freund für mich.»
Nach New York ist Phyall für einen anderen Mann gezogen. Doch auch diese Beziehung ist gescheitert. Sie stünden an unterschiedlichen Punkten im Leben, meint Phyall vage. Noch teilen sie die Wohnung. Möglichst bald will Phyall mit ihrer Tochter ausziehen. Wohin? Das weiss sie noch nicht. Sie hat gerade die Bewerbung für das «Housing»-Angebot abgeschickt. In den USA erhalten Menschen mit niedrigem Einkommen oder Beeinträchtigungen sowie Senior:innen Hilfe des Staats beim Finden bezahlbaren Wohnraums. In einer ersten Phase würden Mutter und Tochter in einer möblierten Übergangswohnung leben, einem «shelter», danach könnte Phyall selbst auf die Suche nach einer passenden Bleibe gehen. Der Staat hilft mit der Miete und den anfallenden Kosten für die Einrichtung.
Nur eine von über einer Million
Wenn Phyall ihr künftiges Zuhause spricht, bleibt sie bei den Fakten. Technisch und abstrakt erklärt sie, wie das System funktioniert. Dankbarkeit, aber auch Resignation sind spürbar. Leichter fällt es ihr bei den «food stamps», den Lebensmittelmarken. Jeanel und Phyall sagen, fast alle in ihrem Umfeld beziehen diese Unterstützungsgelder. Die neuesten Zahlen zeigen: 2023 lebten alleine im Bundesstaat New York 14,3 Prozent der Bevölkerung von Lebensmittelmarken, das sind über eine Million Haushalte. Mehr sind es nur in Kalifornien und Texas.
Für einen Moment gewährt Phyall einen Blick hinter ihre Fassade. Sie sagt, es sei für sie gerade richtig schwierig. Als Mutter, mit der Trennung, dem neuen Job. «Manchmal weiss ich nicht, wie ich es schaffe, noch hier zu sein.» Es seien ein paar harte Wochen gewesen, vielleicht auch Monate.
Die Fassade bröckelt – aber nur für einen Moment
«Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf, laufe in meiner Wohnung rum.» Phyall sagt, «I get into my head a lot». Sie meint, sie könne oft nicht aufhören zu grübeln. Ihr Vorsatz sei mehr «selfcare», sich mehr um sich selbst zu kümmern. «Viele denken, das heisst, schöne Nägel und Haare zu haben. Das habe ich. Aber es ist nicht so einfach.» Vielleicht beginne sie wieder mit Tagebuchschreiben. Sie habe erst vor kurzem realisiert, dass noch viel Kindheitstrauma in ihr drin stecke. «Ich glaube, ich brauche Therapie.»
Autumn Phyall setzt sich wieder aufrecht hin, Schultern zurück, Brust raus – als wolle sie nicht nur ihren Rücken, sondern auch ihr Leben geraderücken. «But nothing I can’t handle.» Aber nichts, das sie nicht bewältigen könne, sagt sie. Die Fassade ist wieder da.
Zur Autorin: Silvana Schreier ist Redaktorin bei der Regionalzeitung «bz – Zeitung für die Region Basel». Während ihrer Reise hat sie als freischaffende Journalistin gearbeitet. Sie lebt in Olten.