Sollte das Urteil gekippt werden, läge die Entscheidung über eine Abschaffung oder Einschränkung des Rechts auf Abtreibung bei den einzelnen Bundesstaaten. Und viele davon stehen schon in den Startlöchern: Sie haben bereits Gesetze erlassen oder vorbereitet, die bei einer Abschaffung von «Roe v. Wade» in Kraft treten würden. Gemäss der aktuellsten Umfrage sind 53 Prozent der US-Bürger:innen dagegen, dieses Recht einzuschränken. Eine erschreckend dünne Mehrheit.
Der federführende Verfassungsrichter Alito begründet das Kippen des Urteils damit, dass das Recht auf Abtreibung nicht aus der Verfassung abgeleitet werden könne, da dort das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch nicht explizit festgeschrieben sei. Dieser Paradigmenwechsel würde dazu führen, dass alle Rechte, die durch den Supreme Court begründet wurden, darunter etwa das Recht zu verhüten oder die gleichgeschlechtliche und multiethnische Ehe, dahinfielen.
Vordergründig geht es um das Abtreibungsrecht der Frauen. Im Kern ist diese Auseinandersetzung aber nur eine der zahlreichen Ausgeburten des Machtstrebens einer christlich-fundamentlistischen Minderheit. Sie hat ihr Vorgehen lange Zeit im Voraus geplant. Und sie setzt es seit 1960 minutiös um, und zwar erfolgreich. Ihr strategisches Ziel: Die Herrschaft der rechten, weissen und christlichen Minderheit. Um an diese Herrschaft zu kommen, wurden im Vorfeld die politischen Rechte ärmerer und nicht weisser Gruppen, insbesondere People of Color, Latinos und Ureinwohner:innen, ausgehöhlt: Etwa die Hälfte Bundesstaaten macht es für Millionen von US-Bürger:innen unmöglich, ihre Stimme abzugeben – obwohl sie noch nie verurteilt wurden.
Was dem Abtreibungsrecht droht, wurde für das Wahlrecht bereits 2013 Realität. Dieselben konservativen Richter des Supreme Courts höhlten bereits damals das Gesetz über die Wahlrechte aus: Sie behaupteten, dieses Recht sei verfassungswidrig. So wurde der Boden bereitet für das, was jetzt gerade passiert und uns in grösserem Mass noch bevorsteht: Rückwärtsgewandte, autoritäre und unbeliebte Forderungen werden relativ einfach politisch durchgesetzt. Indem gezielt das Wahlrecht jener Gruppen beschränkt wird, die am stärksten von den Einschränkungen betroffen und dagegen wären.
- Do you want to see the Court overturn Roe v Wade?
- Well, if we put another two or perhaps three Justices on, that’s really what’s going to – that will happen. And that’ll happen automatically, in my opinion. Because I am putting pro-life Justices on the Court.
Donald Trump, 2018
Sollte sich die Verschärfung beim Abtreibungsrecht durchsetzen, werden Frauen, die abgetrieben haben – und in gewissen Bundesstaaten all jene, die Frauen in diesem Vorhaben unterstützen, wie Ärzt:innen und Pflegepersonal – kriminalisiert. Auch verlieren sie damit dann potenziell ihr Wahlrecht. Der Teufelskreislauf nimmt so noch stärker Fahrt auf.
Und in der Schweiz droht ähnliches: Exponent:innen der SVP haben – inspiriert von den Entwicklungen in den Vereinigten Staaten – kürzlich gleich zwei Antiabtreibungsinitiativen angekündigt. Und die SVP hat sich schon immer gegen die Ausweitung des Wahl- und Stimmrechts gewehrt: damals gegen das Frauenstimmrecht, heute gegen das Stimmrecht für Bürger:innen unter 18 oder für Ausländer:innen. Wir haben zumindest noch die Möglichkeit, das Fatale zu verhindern.
Anders die Vereinigten Staaten: Die Herrschaft der fundamentalistischen Minderheit steht kurz vor dem Ziel.