Saftige Auen fliegen am Fenster vorbei, durchschnitten von Bächen und Flüsschen, die ersten Ausläufer des Schwarzwalds, Städtchen aus rotem Sandstein, und irgendwo sitzt bestimmt Bilbo Beutlin in seiner Höhle und trinkt zum fünften Frühstück eine Tasse lauen Kräutertee.
Im Zug, gefühltes Schritttempo, geht alles so gemächlich voran, dass es sogar dem Internet zu langweilig wurde, es hat sich schon kurz nach der Schweizer Grenze verabschiedet. Pause, in, fast, jedem, Ort. Sie tragen Namen wie Tuttlingen oder Horb oder Böblingen, wobei das ö bei Böblingen in die Länge gekaut wird.
Nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit – Bilbo sitzt in der Zwischenzeit bestimmt schon beim Nachtmahl, der Glückliche, im Zug kein Verpflegungswagen, kein Kaffee, nicht mal trinkbares Wasser – kommen wir dann doch noch in Stuttgart an. Endlich.
Hauptbahnhof, Beschleunigung, rechts stehen, links gehen. Doch nicht hier. Wenigstens funktioniert das Internet wieder. Was aber nicht wirklich eine Hilfe ist, weil dort, wo eigentlich die Haltestelle für die Strassenbahn sein sollte, ein gigantisches Loch im Boden klafft. Bagger und Presslufthammer fressen sich ohrenbetäubend durch seine staubigen Eingeweide.
Es ist ganz einfach, sagt der Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe, und seine Weste strahlt. Nur der Linie folgen, er zeigt auf den Boden. Tatsächlich. Ich will mich schon auf den Weg machen, da fragt er, ob ich eine geflüchtete Frau aus der Ukraine bis zur Strassenbahn mitnehmen könne.
Charascho? Er grinst.
Charascho, antworte ich. Gut!
Mein russisches Lieblingswort, weil man «gut» an fast jeden Satz und jede Frage anhängen kann. Doch statt uns gehen zu lassen, läuft er mit. Man muss improvisieren können, sagt er und hebt die Hände in die Luft, als wolle er die gesammelten Züge der Deutschen Bahn in einer einzigen Bewegung umarmen. Wer improvisiert, habe ein besseres Leben, wiederholt er. Wer improvisiert, habe die besseren Beziehungen.
Erst später wird mir klar, dass es sich bei dem «riesigen Loch» um das Megaprojekt «Stuttgart 21» handelt. Und ich fühle mich etwas unwissend. Auch als ich merke, dass sich der Mann mit der Weste eigentlich um Geflüchtete kümmert, die am Bahnhof ankommen – und nicht um orientierungslose Autorinnen aus Zürich.
Doch ich freue mich, ein paar Brocken Russisch zu sprechen, die ich vor Monaten in einem Kurs gelernt habe, als die Möglichkeit eines Krieges im Anschluss an eine globale Pandemie noch fest verdrängt war.
Improvisieren. Annehmen, was da ist. So einfach und so wahr. Wir planen. Wir setzen um. Wir kontrollieren. Wir evaluieren. Wir planen neu. Und doch passieren die wirklich guten Dinge im Leben meist dann, wenn wir nicht damit rechnen. Wenn uns zum Beispiel etwas so richtig aus der Bahn geworfen hat, alle Schutzschilde und Routinen weg sind. Und sich hinter der ganzen Verletzlichkeit eine neue Welt auftut. Eine, in der man an einem frühen Sommerabend ungeplant durch eine fremde Stadt spaziert, weil in deren Mitte ein absurd grosses Loch klafft, vorbei an Ständen mit duftendem Blechkuchen, Bier und Currywurst, und alles plötzlich etwas heller erscheint.
Unerwartete Wendungen, die nicht nur im Leben, sondern auch in der Wissenschaft unerlässlich sind. Forscher bauten auf der Suche nach dem kleinsten Teilchen eine Weltmaschine und schufen dabei das Internet. Eine vor dem Urlaub im Labor vergessene Petrischale führte zur Entdeckung des Penicillins. Und auch die im Arbeitsalltag allgegenwärtigen Post-its verdanken wir nur dem misslungenen Plan eines Chemikers, den stärksten Klebstoff der Welt zu erfinden. Serendipity everywhere.
Zwar führt nicht jedes Abkommen vom Weg zu einer überraschenden Entdeckung, aber zumindest erhält der Zufall eine reelle Chance, das Glück ein wenig auf unsere Seite zu ziehen.
Und Glück, das kann manchmal auch einfach ein unerwartetes Gespräch sein, am Rande einer Baustelle. Zur Lesung habe ich es dann noch pünktlich geschafft. Doch vielleicht wird mir der improvisierte Spaziergang länger in Erinnerung bleiben.